Was lange als tabu und nicht machbar galt, ist im November 2018 Realität geworden: In China wurden erstmals zwei Kinder geboren, deren Erbgut einer Keimbahn-Editierung unterzogen worden war. Die beiden Zwillingsmädchen trugen eine Genvariante in sich, die ihnen verstärkten Schutz vor einer späteren HIV-Infektion verleihen sollte, so jedenfalls verkündete es der chinesische Biophysiker He Jiankui gegenüber der Presse.
Ein Zwillingspaar mit verändertem Gen
Konkret hatte das Team um He die Genschere CRISPR/Cas9 genutzt, um während der In-Vitro-Befruchtung von 16 Eizellen das sogenannte CCR5-Gen im Erbgut der neu gezeugten Embryos zu deaktivieren. Diese Mutation kommt natürlicherweise bei rund zehn Prozent der Europäer vor und macht ihre Träger weniger anfällig gegenüber HIV. Ist dieses Gen stillgelegt, fehlt den Zellen ein Protein, über das das HI-Virus in die Wirtszellen eindringen kann.
He und seinem Team gelang es, das CCR5-Gen im Genom von sieben der 16 Embryos zu deaktivieren. Statt das Experiment jedoch im frühen Stadium abzubrechen, wie es die chinesischen Gesetze verlangt hätten, pflanzten die Forscher die manipulierten Embryos wieder ihren Müttern ein. Diese hatten sich freiwillig gemeldet, weil ihnen im Gegenzug die Kosten von umgerechnet rund 42.000 US-Dollar für die In-Vitro-Fertilisation erlassen werden sollten. Ob die Paare wussten, was genau an den Embryos gemacht wurde, ist unklar.
Zu einer erfolgreichen Schwangerschaft und Geburt kam es jedoch nur in einem Fall: Die Frau gebar im November 2018 Zwillinge. „Die beiden Mädchen Lulu und Nana kamen schreiend und so gesund wie jedes andere Baby auf die Welt“, berichtet He in einem Video. Seinen Angaben nach haben Gentests ergeben, dass bei einem der beiden neugeborenen Babys beide Kopien des CCR5-Gens deaktiviert waren, bei zweiten Kind sei nur eines der beiden Allele ersetzt. Einige Monate später kam als Ergebnis einer Wiederholung des Experiments noch ein drittes Kind mit der gleichen Genmanipulation zur Welt.
„Super-GAU für die Wissenschaft“
Damit war ein Tabu gebrochen: Zum ersten Mal hatte ein Forscher Babys produziert, deren Keimbahn verändert worden war. Die beiden Zwillingsmädchen und das dritte Kind sind die ersten Menschen auf diesem Planeten, die eine solche dauerhafte und auf alle ihre Nachkommen vererbbare Genmanipulation in sich tragen. Welche Folgen das für diese Kinder haben wird und ob sie überhaupt Vorteile von diesem Eingriff in ihr Erbgut haben, ist unklar.
Entsprechend stark waren die Reaktionen: Sowohl Forschende als auch Wissenschaftsorganisationen weltweit verurteilten diesen Vorstoß. Als „Super-GAU für die Wissenschaft“ bezeichnete der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, das Experiment der chinesischen Forscher. „Wenn systematisch die biologische Grundlage des Menschen manipuliert werden soll, ist dies ein Menschheitsthema“, so Dabrock. Es dürfe nicht sein, dass solche Eingriffe unkontrolliert erfolgen, bevor die potenziellen Folgen geklärt seien.
Zwischen Vernunft und Versuchung
Gleichzeitig illustriert der Fall He aber auch, in welchem Dilemma das Fachgebiet steckt. Einerseits vertreten die meisten Wissenschaftler die Ansicht, dass Keimbahneingriffe streng kontrolliert und reglementiert werden sollten – zumindest bis die Methodik ausgereifter und die Folgen klarer sind. Andererseits aber verführen Wissensdrang, Karrierestreben und manchmal auch handfeste finanzielle Anreize dazu, die Grenzen des Machbaren immer weiter hinauszuschieben. „Es reicht nicht aus, dass die Wissenschaft sich Verhaltenscodizes gibt, an die sich keiner hält“, sagt Dabrock.
Zwar hat die Weltgesundheitsorganisation WHO ein vorübergehendes Moratorium aller klinischen Anwendungen der Keimbahn-Editierung empfohlen und zusätzlich ein öffentliches Register, in dem alle Experimente in diesem Bereich erfasst und transparent einsehbar wären. Umgesetzt wurde dies aber bislang nicht. Und selbst wenn, ließe sich das Einhalten eines solchen Moratoriums kaum bis ins Letzte kontrollieren. „Wie wir aus dem jüngsten Fall in China gelernt haben, kann man solche Verstöße kaum verhindern“, kommentierte Fyodor Urnov, Genforscher der University of California in Berkeley gegenüber „nature“.
Nicht kontrollierbar
Möglichkeiten, die offiziellen Leitlinien und Verbote zu umgehen, gibt es durchaus, wie auch andere Fallbeispiele zeigen. So führte ein Mediziner aus New York vor einigen Jahren auf Wunsch eines Paares einen umstrittenen Austausch von Mitochondrien bei der künstlichen Befruchtung durch. Das Kind erhielt dadurch das mitochondriale Erbgut einer nicht mit ihm verwandten Spenderin. Weil diese Prozedur in den USA verboten ist, reisten der Forscher und seine Klienten dafür kurzerhand nach Mexiko. In Russland, Albanien, Israel und weiteren Ländern gibt es zudem Privatkliniken, die diese und weitere ethisch umstrittene Geneditierungen anbieten.
Für He Jiankui allerdings nahm der Vorstoß kein gutes Ende: Weil ein Keimbahneingriff zum Zweck der Reproduktion auch in China verboten ist und er zudem im Zuge des Projekts einige Dokumente gefälscht haben soll, wurde er von seiner Universität gefeuert und von der Regierung sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.