Während seiner Arbeit am sowjetischen Kernwaffenprojekt wussten Sacharow und die anderen Physiker zwar, an welch schrecklichen Massenvernichtungswaffen sie arbeiteten. Doch sie handelten aus patriotischem Pflichtgefühl. Sacharow erklärt die damalige Stimmung folgendermaßen: „Doch der Krieg war noch nicht lange vorbei, und er war ebenfalls unmenschlich gewesen! In jenem Krieg war ich kein Soldat, aber nun fühlte ich mich als Soldat des wissenschaftlich-technischen Krieges.“ Die Physiker waren auch der Meinung, dass nur ein nukleares Gleichgewicht zwischen den Supermächten die Welt vor der totalen Zerstörung bewahren kann.
Ein paar tausend Tote zu viel
Doch der Test von einem seiner „Produkte“ im Jahre 1955, bei dem zwei Zivilisten starben, darunter ein zweijähriges Mädchen, führte bei Sacharow zu einem Umdenken. Er beschäftigte sich auch immer stärker mit der Frage, wie stark die Umwelt durch das freigesetzte radioaktive Material verseucht wurde und wie viele Menschen dadurch zu Tode kommen. Seinen Berechnungen zufolge könnte der Fallout durch die Kernwaffentests der Sowjetunion und der USA pro Megatonne indirekt für 10.000 Todesfälle durch Krebs und andere Spätfolgen verantwortlich sein.
In der folgenden Zeit wandte sich der Physiker daher wiederholt an den damaligen Regierungschef Chruschtschow, um Tests von Atomwaffen in der Atmosphäre oder zumindest den unnötige Doppeltest von fast baugleichen Bomben, die der reinen Machtdemonstration dienten, zu beenden. Doch umsonst: am 30. Oktober 1961 explodierte die Zar-Bombe, die von Sacharow entwickelt wurde, über Nowaja Semlja. Der Physiker konnte die Schuld nun nicht mehr ertragen: „Ein Gefühl, der Ohnmacht, der unerträglichen Bitterkeit, der Scham und Erniedrigung erfasste mich. Ich fiel mit dem Gesicht auf den Tisch und weinte“, berichtet er.
Ein verhängnisvolles Essay
Sacharow wandte sich zunehmend gegen die Doktrin der kommunistischen Partei. Seine Position wurde radikaler und er begann die Arbeit an seinem Essay „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“. Geprägt wurde das Werk auch von den Eindrücken des später von der roten Armee niedergeschlagenen Prager Frühlings, in dem ein neuer, liberaler Weg des Kommunismus in der Tschechoslowakei diskutiert wurde.
In den „Gedanken“ legt Sacharow die aus seiner Sicht größten Gefahren für die Menschheit dar: das Risiko eines Krieges mit thermonuklearen Waffen, Umweltverschmutzung und Hungersnöte durch Überbevölkerung. Für die Lösung der Probleme sei eine Annäherung und Verschmelzung zwischen kapitalistischem und sozialistischem System notwendig, schreibt er. Der Sozialismus habe der Arbeiterklasse enorme Vorteile verschafft. Jedoch müsse geistige Freiheit, Achtung der Menschenrechte und Abrüstung die Basis eines jeden Systems sein. Gegen Ende des Texts fordert Sacharow zudem die Freilassung politischer Häftlinge.
Verrat am Sozialismus
Veröffentlich wurde das Essay im Samisdat (russisch für Selbstverlag) – eine verbreite Form der Verteilung von Oppositionsschriften in Russland. Kopien des Werks schafften es sogar in den Westen und die „Gedanken“ wurden in der New York Times abgedruckt. Das KGB hingegen war alles andere als begeistert: Die Verschmelzung beider Systeme war aus ihrer Sicht Verrat am Sozialismus. Als Folge dessen verlor Sacharow seine Stelle im Kernwaffenprojekt.