Wie wichtig ist denn jetzt der Zufall wirklich? Hätte es all diese Entdeckungen ohne Zufälle nicht gegeben? Hätte Henri Bequerel nicht sein Experiment noch häufiger wiederholt? Irgendwann einmal wäre es bestimmt bewölkt gewesen. Auch das Phänomen der Röntgenstrahlen wäre vermutlich früher oder später irgendwem aufgefallen. Und hätte Kolumbus nicht auf unkonventionellem Weg nach Indien reisen wollen, so hätte jemand anders Amerika entdeckt. Irgendwann zumindest.
Trotzdem spielt der Zufall eine wichtige Rolle, weil er entscheidende Denkanstöße bringen kann. Dabei kommt es allerdings darauf an, wer etwas durch Zufall findet. Als der Junge Kläusi ein wertvolles Stück des römischen Silberschatzes findet, erkennt er dessen Wert nicht und wirft es – auf Anraten seines Lehrers – wieder weg. Erst als ein Archäologe Teile des Schatzes sieht, beginnt die gezielte Suche nach dem Rest. Auch auf Zieglers Idee, noch andere Metalle auf ihre Wirkung bei der Polyethylenbildung zu prüfen, muß man erstmal kommen. Und jemand anderes als Roy Plunkett hätte die scheinbar leere Gasflasche vielleicht einfach weggeworfen, anstatt sie aufzusägen. Dann hätten wir heute noch kein Teflon. Auch die Fullerene hätten schon Jahre früher entdeckt werden können. Weil aber die entscheidende Idee fehlte, wurden die seltsamen Spuren als Verschmutzung abgetan.
Demnach sind Zufälle manchmal nützlich, um eine ganz neue Entdeckung möglich zu machen, an deren Existenz vorher niemand gedacht hat. Aber wenn sich jemand nicht mit den wissenschaftlichen Hintergründen auskennt, dann nutzt der beste Zufall nichts und es entstehen weder Nobelpreisträger noch Supraleitungen.
Zumindest sollten sich Bundesforschungsminister nicht zu schnell dazu hinreissen lassen, unter Forderungen nach mehr Anwendungsnähe in der Wissenschaft die Grundlagenforschung finanziell immer weiter zu beschneiden. Wenn nur nach bestimmten vorgegebenen Zielen geforscht wird, so kommt am Ende entweder das Erwartete heraus oder eben nicht. Etwas völlig Unerwartetes dagegen in den seltensten Fällen.
Industrieunternehmen haben dies längst vergegenwärtigt. Das Cyclosporin wäre nicht entdeckt worden, wenn man nicht, angeregt durch die spektakuläre Penicillin-Entdeckung, systematisch nach dem Zufall gesucht hätte. Und seit durch einen Zufall die gelben „Post it“-Klebezettel entdeckt wurden, wird den Mitarbeitern dieser Firma eine Zeit von 15 Prozent ihres Arbeitspensums eingeräumt, in der sie ohne festes Ziel oder Erfolgsdruck in einem Bereich ihrer Wahl forschen können. Denn vielleicht taucht er ja eines Tages wieder auf: Der entscheidende Zufall.
Stand: 30.05.2000