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Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren. Wie gewaltige qualmende Zigarren ragen die Schlote der Fabriken im Ruhrgebiet und anderen Regionen zu Hunderten in den Himmel hinauf. Immer höher und höher sind die Schornsteine in letzter Zeit geworden. Sie sollen so die „dicke Luft“, die über den Industrieparks und Städten liegt und die Gesundheit der Menschen bedroht, dort ablassen, wo sie weniger stört – weit oben.
Je höher die Schlote, desto weiter wird der Schadstoffmix aus Schwefeldioxid, Stickoxiden oder giftigen Schwermetallen vom Wind verteilt, so das Konzept der Wirtschaftsbosse und Politiker. Damit scheint zunächst allen geholfen. Den Bewohnern rund die Schwerindustrie, die wieder bessere Luft atmen können und auch den Industriebetrieben. Denn diese müssen dann nicht in wirksame, aber teure Filter und andere moderne Umweltschutztechnik investieren.
Waldsterben und saurer Regen
Die Maßnahmen zeigen durchaus Erfolg, die Schadstoffpegel in Städten wie Duisburg, Leverkusen, oder Ludwigshafen sinken. Problem gelöst? So scheint es. Doch schon bald hält ein neues, bis dahin unerklärliches Phänomen in Deutschland und in anderen europäischen Ländern Einzug: Waldsterben. Viele Baumbestände auch in abgelegenen Gebieten erkranken großflächig. Und dass, ohne dass Industrieansammlungen in der Nähe sind, die man direkt dafür verantwortlich machen könnte.
Erstes Opfer sind die Weißtannen in Bayern und im Schwarzwald. Bald kommen schwere Schäden auch an Fichten, Buchen, Kiefern oder Eichen hinzu. Und nur wenige Jahre später ist dann ein knapp ein Drittel aller Bäume krank, wie die Analysen belegen. Bilder von endlosen Reihen mit Baumskeletten flimmern immer wieder über die Fernseher in den Wohnzimmern. Deutschland ist geschockt. Der Begriff Waldsterben wird zum Modewort und ist bald in aller Munde. Und beim Lametta-Syndrom denkt kein Mensch mehr an Weihnachtsschmuck, sondern an kahle, herabhängende Zweige geschädigter Tannen und Fichten.
Doch wieso kommt es zu den neuartigen Waldschäden? Werden die Wälder vielleicht falsch gemanagt? Gab es – warum auch immer – einen Nährstoffmangel in den betroffenen Regionen? Die Forscher wissen viel zu wenig über das komplizierte Ökosystem, um darauf eine schlüssige Antwort zu geben.
Ein Hype um das Waldsterben bricht los
Aber schließlich finden Wissenschaftler um den Bodenkundler Bernhard Ulrich von der Universität Göttingen doch eine einleuchtende Erklärung für das Phänomen. Danach ist die starke Luftverschmutzung und der daraus resultierende saure Regen für die verheerenden Waldschäden verantwortlich. Schon in fünf Jahren, so die Prognosen der Forscher, könnten erste Wälder vollständig verschwunden sein.
Die Theorie fällt auf fruchtbaren Boden. „Über allen Gipfeln ist Gift“ schreibt der Stern, ein „ökologisches Hiroshima“ sieht der Spiegel auf Deutschland zu kommen und „Saurer Regen über Deutschland. Der Wald stirbt“. Daran glaubt dann auch bald ganz Deutschland.
Dass es den sauren Regen gibt, ist schnell bewiesen. Aber wie er sich konkret vor Ort in den Wäldern auswirkt bleibt zunächst unklar. Auch in Bezug auf das tatsächliche Ausmaß der Schäden tappen die Wissenschaftler im Dunkeln. Um Antworten auf diese Fragen zu finden, machen Bund und Länder reichlich Forschungsgelder locker. Zwischen 1982 und 1998 fließen rund 270 Millionen Euro in die Waldforschung. Gut angelegtes Geld, denn die Forschungsprojekte bringen viele neue Erkenntnisse über das Ökosystem Wald und die Wirkungsweise der Schadstoffe.
Zum wichtigsten Instrument um die Waldschäden exakt zu diagnostizieren, wird der so genannte Waldzustandsbericht, den die Bundesregierung unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl bereits im Jahr 1984 aus der Taufe hebt. Seitdem liefert er jährlich die neuesten Zahlen über das Leben und Sterben in den deutschen Wäldern.
Stand: 08.12.2006