Phänomene

Die Illusion der Gewissheit

Warum wir schlecht mit Unwägbarkeiten leben können

In dieser Welt ist nichts gewiss, außer dem Tod und den Steuern“, schrieb Benjamin Franklin in einem Brief im November 1789, am Vorabend der Französischen Revolution. Was Franklin meint: Eigentlich alles im Leben ist ungewiss und mit Risiken behaftet. Und wir sind solcher Ungewissheit permanent ausgeliefert. Unser Geist geht jedoch nicht gern mit Ungewissheit um, sondern strebt stets nach Gewissheit. Dieses Streben beeinflusst schon unsere Wahrnehmung.

Nur scheinbar abgeschirmt: Das Ungeborene ist auch im Mutterleib vielen Umwelteinflüssen ausgesetzt. © JOse Torres/ freeimages

Das wird „augenfällig“ beim Betrachten optischer Täuschungen, die darauf zielen, der Wahrnehmung einen Streich zu spielen: Ungeachtet des Wissens, dass eine optische Täuschung vorliegt, gaukelt der Geist dem Betrachter Eindeutigkeit vor. Auch wenn ausdrücklich gesagt wird, dass zwei Linien parallel zueinander liegen, kann der Geist uns vormachen, dass sie das nicht tun. Und selbst dann, wenn die Größe zweier Objekte ausgemessen und als gleich erwiesen ist, lässt sich – sofern die Objekte in bestimmter Art und Weise angeordnet sind – die Wahrnehmung nicht davon überzeugen. Unser Gehirn verkauft unserem Bewusstsein die wahrscheinlichste Vermutung als definitives Ergebnis. Auch die Einsicht in ihr Zustandekommen kann eine Illusion nicht außer Kraft setzen.

„Futter“ für die Esoterik…

Und diese Illusion der Gewissheit bleibt keineswegs auf elementare Erfahrungen unserer Wahrnehmung beschränkt. Vielmehr bildet trügerische Gewissheit einen Teil unseres emotionalen und kulturellen Erbes. Von dieser Sehnsucht zeugen die Esoterik-Abteilungen der Buchhandlungen: Hier werden Sicherheiten angeboten, die in vielen Bereichen des Lebens nicht mehr zu finden sind. Solche Glaubenssysteme gab es zu allen Zeiten in der menschlichen Geschichte. Menschen suchten und suchen Trost in Religion, Astrologie und Weissagung – und das umso mehr, je schwerer die Zeiten.

…und falsche Sicherheiten

Diese Sehnsucht nach Gewissheit bedienen auch Medizin, Wirtschaft und Politik. So sehen sich Ärzte häufig gezwungen, ihren Patienten Sicherheit zu vermitteln, wo gar keine ist: Sie teilen das Ergebnis eines medizinischen Tests als endgültige Wahrheit mit, obwohl es hierbei natürlich Fehler gibt. In vielen Fällen geschieht das nicht aus Unwissenheit, sondern vielmehr deshalb, um nicht unnötige Ängste beim Patienten zu schüren. Zugleich wollen die Ärzte vermeiden, dass sich ihre Patienten dann eben einen anderen Arzt suchen, der ihnen wieder Sicherheit gibt und sie beruhigt.

Versicherungsvertreter reden uns ein, dass eine Lebensversicherung moralisch geboten und notwendig ist, um Hinterbliebene im Ernstfall zu versorgen. Auch politische Parteien setzen auf diese Sehnsucht: Bei den Bundestagswahlen 1998 versprach die CDU in einem Slogan „Sicherheit statt Risiko“ und bei anderen Parteien fanden sich ähnliche Wahlversprechungen. Wollen sie Erfolg haben, müssen Politiker auf die Ängste der Bevölkerung reagieren.

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Stand: 14.09.2007

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Die Angst nach dem Terror
Wie gehen wir mit Bedrohungen um?

Die Illusion der Gewissheit
Warum wir schlecht mit Unwägbarkeiten leben können

Die unlogische Angst
Das Beispiel BSE

Nach dem 11. September
Die unerwarteten Folgen des Terrors

„Dread risks“
Unwahrscheinlich, aber verheerend

Böse Falle Vermeidungsverhalten
Die indirekten Folgen des Terroranschlags

1.600 unnötige Opfer
War das Vermeidungsverhalten typisch amerikanisch?

Terror in den Köpfen
Informierter Umgang mit Risiken entscheidend

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