Mit ihrer Präsentation des Homo habilis lösen Leakey und seine Kollegen einen wahren Aufruhr in der Wissenschaftlergemeinde aus. Denn dieser Fund – und noch viel mehr seine Interpretation – widersprechen allem, was man bisher über die Menschheitsgeschichte zu wissen geglaubt hatte. Denn sollte sich dies bestätigen, dann wäre der Mensch doch nicht mit dem Homo erectus in Asien entstanden, sondern stattdessen in Afrika. „Das war ein echter Wendepunkt in der Paläoanthropologie“, kommentiert der Anthropologe Bernard Wood von der George Washington University heute. „Und er startete eine Kontroverse, die bis heute anhält.“
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Aufrechter Gang und Faustkeil
Für Leakeys Interpretation spricht, dass der Homo habilis immerhin dreieinhalb der vier Kriterien erfüllte, die damals als maßgebend für alle Vertreter der Gattung Homo galten: Er besaß eine aufrechte Haltung, lief auf zwei Beinen und besaß das Geschick und die Intelligenz, um Werkzeuge herzustellen. Den aufrechten Gang belegten Fuß- und Beinrelikte des Homo habilis, die Leakey und Co kurz nach „Johnnys Kind“ fanden. Demnach hatte Homo habilis bereits parallel nach vorne ausgerichtete Zehen mit einer vergrößerten Großzehe. Die Fußknöchel waren zudem schon so umgebildet, dass sie eine effiziente Gewichtsverteilung beim Gehen ermöglichten.
Die in der gleichen Fundschicht entdeckten Werkzeuge zeugen davon, dass der Homo habilis bereits planmäßig Steine zu verschiedenen Werkzeugtypen zurechtklopfte, wie etwa Haumesser, Meißel, und Schaber. Er ist damit der erste Hominide, für den dies nachgewiesen werden kann. Denn der Australopithecus nutzte vermutlich schon einfache Hilfsmittel, stellte sie aber nicht in dieser Fülle her.
Grenzwertiges Gehirn
Ein wenig schummeln mussten die Forscher dagegen beim Gehirn: Eigentlich lag der offizielle untere Grenzwert für die Gattung Homo bei 700-900 Kubikzentimetern. Der Evolutionsbiologe Ernst Mayr hatte dies als den „cerebralen Rubikon“ beschrieben – erst ab dann, so glaubte man, war die Intelligenz eines Hominiden hoch genug entwickelt, um ihn als Mensch zu klassifizieren.
Um ihren Homo habilis dennoch dieser Gattung zuordnen zu können, definierten Leakey und seine Mitstreiter daher die untere Grenze kurzerhand um und verschoben sie auf 600 Kubikzentimeter. Ihre Ansicht nach ist das noch immer deutlich genug vom Australopithecus abgesetzt, der maximal 400 bis 550 Kubikzentimeter Volumen erreichte.
Nur Wunschdenken?
Die Einführung der neuen Menschenart löste heftige Diskussionen und reichlich Kritik aus. Die meisten hielten die Fossilien nur für eine weitere Art des Australopithecus, die Zuordnung von Leakey und Co sei schlicht Wunschdenken. Andere vermuteten, dass die Funde schlicht falsch zusammengesetzt waren. In Wirklichkeit handele es sich um Teile des Australopithecus africanus, vermischt mit Fragmenten des Homo erectus.
Nur die wenigsten waren bereit, den Fund aus der Olduvai-Schlucht als den ältesten Homo-Vertreter anzuerkennen. Das änderte sich erst durch weitere Funde in den 1970ern – die allerdings den Menschenstammbaum noch verworrener machten.
Nadja Podbregar
Stand: 25.04.2014