Dass wir das bisherige Regelwerk der Evolution umgeschrieben haben, war in vielen Fällen keine Absicht. Den Tarnhintergrund des Birkenspanners haben wir zum Beispiel nur aus Versehen umgefärbt und ihn so zur Anpassung gezwungen. Doch es gibt auch Fälle, in denen wir die Entscheidung über Leben und Sterben ganz bewusst fällen.
Von Wölfen und Menschen
Einer der größten Tricks zur Evolutionsbeschleunigung, den wir Menschen parat haben, ist die Jagd. Denn während Wolf, Bär und Co. es bevorzugt auf alte, kranke und sehr junge Beutetiere abgesehen haben, dürstet es uns stattdessen nach den großen, gesunden und vor Kraft nur so strotzenden Exemplaren.
Diese Rosinenpickerei erlaubt uns einerseits unser überlegenes Waffenarsenal und andererseits der Fakt, dass wir nicht mehr auf die Jagd angewiesen sind, um durch sie Nahrung und warme Pelze zu gewinnen. Anders als klassische Raubtiere müssen wir daher nicht jene Beute auswählen, die besonders leicht zu überwältigen ist und somit maximalen Gewinn für minimalen Einsatz verspricht.
Das hat dazu geführt, dass die Jagd sich vielerorts von einer Notwendigkeit zu einer Sportart mit Nervenkitzel gewandelt hat. Als bester „Athlet“ gilt, wer die größten und spektakulärsten Tiere erlegt: zum Beispiel den Elchbullen mit dem wuchtigsten Geweih oder den Löwen mit der eindrucksvollsten Mähne. Gelingt eine solche Beute, landet sie als ausgestopfte Trophäe an der Wand und wird vom Freundeskreis stolz bewundert.
Schrumpf ist Trumpf
Doch ausschließlich die gesündesten und stärksten Tiere aus der Natur zu entnehmen, bleibt nicht ohne Folgen. Denn betreiben wir diese unnatürliche Selektion in großem Maßstab, bringen wir damit die bisherigen Vorgaben der Natur durcheinander. Waren große Geweihe, Hörner und Mähnen einst von Vorteil, weil sich mit ihnen Weibchen beeindrucken und Paarungskämpfe gewinnen ließen, sind sie nun auf einmal von Nachteil, weil sie zum verfrühten Tod ihres Trägers führen und dieser somit keinen Nachwuchs mehr zeugen kann.
Das hat jedoch nicht nur Folgen für die abgeschossenen Tiere selbst, sondern auch für ihre Populationen, wie Forschende um David Coltman von der University of Sheffield im Jahr 2003 erstmals anhand von kanadischen Dickhornschafen nachweisen konnten. Unter Trophäenjägern sind vor allem die Widder mit den größten gewundenen Hörnern beliebt. Viele von ihnen sterben aufgrund ihres prächtigen Kopfschmucks allerdings bereits, bevor sie überhaupt die Geschlechtsreife erreicht und auch nur einen einzigen Nachfahren gezeugt haben.
Da sie dem lokalen Genpool somit keine „Großhorn-Gene“ mehr beisteuern können, verarmt dieser langfristig und das Aussehen aller nachfolgenden Schafe verändert sich, wie Coltman und sein Team herausgefunden haben. Denn indem nur Widder mit kleinen Hörnern, die für Trophäenjäger uninteressant sind, Nachwuchs zeugen, verbreitet sich auch die Neigung zu kleinen Hörnern immer stärker. Im Falle der überwachten kanadischen Population war die durchschnittliche Horngröße dadurch in nur zwei Jahrzehnten um rund 30 Prozent geschrumpft. Da Körper- und Horngröße zusammenhängen, waren die Tiere auch sonst immer kleiner geworden.
Die Masche der Maschen
Ähnliche Effekte lassen sich bei vielen weiteren Tieren beobachten, zum Beispiel bei französischen Mufflons oder nordamerikanischen Hirschen. Aber auch in den Meeren haben wir dem Motor der Evolution bereits ordentlich eingeheizt. Dort selektieren wir mithilfe der Maschengröße im Schleppnetz, welche Fische sterben und welche leben. Wer zu groß ist, um durch die Maschen zu schlüpfen, landet auf dem Teller und kann dementsprechend keinen Nachwuchs mehr zeugen.
Unter Speisefischen ist es daher im Laufe der Zeit essenziell geworden, klein zu bleiben und außerdem so früh wie möglich die Geschlechtsreife zu erreichen. Auf diese Weise haben sie zu dem Zeitpunkt, ab dem sie dem Schleppnetz endgültig nicht mehr entkommen können, immerhin ein paar Nachkommen hinterlassen. Fischereistatistiken zeigen zum Beispiel, dass der nordwestatlantische Kabeljau mittlerweile schon im Alter von vier Jahren geschlechtsreif wird und zu diesem Zeitpunkt eine Länge von 40 Zentimetern erreicht. Zum Vergleich: In den 1950er Jahren wurden die Fische erst im Alter von sechs Jahren geschlechtsreif und das bei einer Länge von 65 Zentimetern.
300 Prozent schneller als Mutter Natur
Wie stark der Selektionsdruck ist, den wir durch die Jagd ausüben, veranschaulicht auch eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2009. Darin haben Forschende um Chris Darimont von der kanadischen University of Victoria den Effekt der Jagd auf rund 30 verschiedene Spezies analysiert. Das Ergebnis: Bei 95 Prozent der untersuchten Tierarten hatte die Bejagung zu körperlichen Veränderungen wie einer schrumpfenden Körpergröße geführt, bei 97 Prozent zu Veränderungen ihrer Entwicklung, zum Beispiel einer verfrühten Geschlechtsreife. Ersteres hatte sich im Schnitt um 18 Prozent, Letzteres sogar um 25 Prozent verändert.
Außerdem sorgen wir mit der Jagd dafür, dass sich all diese Veränderungen im Rekordtempo vollziehen. Darimont und seine Kollegen kommen zu dem Ergebnis, dass wir die Prozesse der Evolution durch Bejagung um über 300 Prozent schneller ablaufen lassen, als es sonst der Fall wäre. Wir könnten somit die stärkste evolutionäre Kraft sein, die unser Planet jenseits seiner fünf großen Massenaussterben jemals erlebt hat.
Elefanten ohne Stoßzähne auf dem Vormarsch
Eine der sichtbarsten Evolutionen in Echtzeit haben wir Menschen an den Elefanten im Gorongosa-Nationalpark in Mozambik bewirkt. Seit dort zwischen 1977 und 1992 ein blutiger Bürgerkrieg getobt hat, den beide Lager mit Wilderei und Elfenbeinhandel finanzierten, gibt es in dem Nationalpark immer mehr Elefanten ohne Stoßzähne. Ähnlich wie bei dunklen Birkenspannern handelt es sich bei dem Stoßzahnverlust um eine seltene Genmutation, die in der Regel mehr Nach- als Vorteile bringt. Ohne Stoßzähne können die Tiere zum Beispiel schlechter nach Nahrung graben, Rinde von Bäumen abschälen oder sich verteidigen.
Doch wer keine Stoßzähne hat, der wird auch von Wilderern verschont. Deshalb hat sich die Mutation während des Bürgerkriegs so stark durchgesetzt, dass kurz danach über die Hälfte aller Elefantenkühe keine Stoßzähne mehr besaß. So rettete die Mutation den Elefanten zwar das Leben und ihrer Population das Fortbestehen, doch dem Rest des Ökosystems könnte sie nun schaden. Denn ohne Stoßzähne können Elefanten die Ausbreitung der Wälder nicht mehr so gut eindämmen, wodurch diese womöglich langfristig die Savanne überwuchern, wie Experten befürchten.