Wenn wir etwas vergessen, sind wir entweder nicht in der Lage, Ereignisse im Gehirn abzuspeichern oder wir verlieren den Zugang zu bereits abgelegten Erinnerungen. Beides ist ganz normal und passiert im Laufe der Zeit ständig, unter anderem durch Stärken oder Vernachlässigen bestimmter Neuronen-Bahnen. Aber wie genau funktioniert das?
Vor dem Vergessen kommt das Erinnern
Um die neuronalen Mechanismen des Vergessens verstehen zu können, muss man sich zunächst vor Augen führen, wie das Erinnern von Erlebnissen funktioniert. Dafür gibt es keinen zentralen Speicherplatz, sondern die Speicherung hängt von der Art der Erinnerung ab. Beispielsweise emotionale Erinnerungen hängen mit der Amygdala zusammen, einer Hirnregion, die zusammen mit dem Hippocampus emotionale Äußerungen reguliert. Wollen wir uns hingegen an erlernte Fähigkeiten erinnern, wird dies mit dem Striatum assoziiert, welches beispielweise an der Koordination des motorischen Systems beteiligt ist.
An der Speicherung von Erinnerungen sind meist Gruppen von Neuronen beteiligt, also Verbände von Nervenzellen im Gehirn, die Sinneseindrücke weiterleiten können. Gibt es für einen äußeren Reiz noch keinen Verarbeitungsweg, wachsen von einer Gehirnzelle feine Fortsätze zu einer anderen Gehirnzelle und bilden eine Kontaktstelle. Über diese Synapse tauschen die Neuronen Neurotransmitter wie Acetylcholin oder Noradrenalin miteinander aus und können so kommunizieren.
Die Anatomie des Vergessens
Dieser Neuronen-Verbund reagiert kollektiv auf Reize aus der Außenwelt, wie zum Beispiel das Gesicht eines Verwandten oder den Geruch von frisch gebrühtem Kaffee. Ihre Verbindung zueinander wird dabei umso stärker, je häufiger dieser Verbund zusammen stimuliert werden. Die gemeinsame Aktivität der Neuronen erleben wir dann als Erinnerung. Die Fähigkeit Informationen aufzunehmen, abzuspeichern und nach Bedarf wieder abzurufen, ist das, was wir als Gedächtnis kennen.
Genauso wie das Erinnern ein stetiger Aufbau ist, verschwinden die Erinnerungen auch nicht abrupt, sondern verblassen eher. Wenn wir eine Information ständig brauchen, wie etwa den PIN unserer Bankkarte, wird der Weg dorthin über die Neuronen häufiger „gedacht“ und die Verbindung stärkt sich. Die Information über die Lösung von quadratischen Gleichungen mit der pq-Formel, brauchen die meisten Menschen hingegen seltener, sodass die Verbindungen zwischen Nervenzellen, die mit dieser Erinnerung assoziiert sind, sich irgendwann wieder lösen: Wir haben die Formel vergessen.
Vergessen um zu erinnern
Die Mechanismen des Vergessens helfen unserem Gehirn paradoxerweise auch dabei, sich besser an Sachen zu erinnern oder Gelerntes zu vertiefen. Dabei gilt: Erinnerungen sind keine starren Gebilde, sondern im Gegenteil sehr flexibel. Denn bei der Speicherung von Informationen gilt es effizient zu sein. Daher werden bei einer Vermehrung eines bestimmten Reizes verstärkt Botenstoffe über bestimmte Synapsen ausgeschüttet und diese Verbindung gestärkt. Dieser Mechanismus ist bekannt als Langzeitpotenzierung.
Wege über Nervenzellen, die hingegen weniger häufig gebraucht werden, schütten im Zuge der sogenannten Langzeitdepression weniger Neurotransmitter aus und der Übertragungsmechanismus wird geschwächt. Dadurch werden die Neuronen-Verbindungen insgesamt reduziert und dafür einzelne verstärkt: Das Gehirn verschaltet sich effizienter.
Die Reduzierung der Anzahl von Synapsen ist ungemein wichtig, um neue Erlebnisse und Erfahrungen aufnehmen zu können. Besonders entscheidend dafür ist der Schlaf: Nachts werden circa 20 Prozent der Andockstellen für Botenstoffe an Synapsen abgebaut und somit Platz geschaffen für Neues. Das Gehirn rekalibriert sich sozusagen, während wir schlafen.
„Kein Zugang zu diesem Neuron“
Darüber, ob Erinnertes und Gelerntes komplett aus unserem Gedächtnis gelöscht oder ob der Zugang zu den Informationen nur erschwert wird, ist man sich in der Neurowissenschaft noch nicht einig. Doch bisher weist vieles auf eine Bestätigung der zweiten Theorie hin, die besagt, dass alte Erinnerungen von neuen Eindrücken überlagert werden und wir daher schlechter auf länger zurückliegende Erlebnisse zurückgreifen können.
In Experimenten mit Mäusen konnte beispielsweisegezeigt werden, dass nach dem Vergessen die spezifischen Nervenfortsätze bestehen bleiben, was vermuten lässt, dass die Synapsen lediglich inaktiviert sind und damit die Informationsübertragung unterbrochen ist. Die Neuronen-Verbindungen scheinen also intakt zu bleiben, um nach Bedarf wieder aktiviert werden zu können.
Diesen erschwerten Zugang zu Informationen kann sich man besten mit dem Gefühl des „Auf-der-Zunge-Liegens“ verdeutlichen. Durchschnittlich einmal in der Woche haben Menschen den Eindruck, dass eine Information, die man unbedingt haben will, irgendwo im Hinterkopf gespeichert ist. Doch frustrierenderweise kann man kann sie einfach nicht abrufen.