Heute ist klar: Ob und mit wem ein Atom eine Bindung eingeht, hängt von der Elektronenanordnung in seiner Hülle ab. Sie bestimmt, wie reaktiv ein Element ist, welche Partner es bevorzugt und auch, wie stabil die resultierende Bindung ist. Gesetzmäßigkeiten wie die Oktettregel oder die 18er-Regel der Übergangsmetalle helfen dabei, das Bindungsverhalten eines Elements vorherzusagen.
„Obwohl diese Regeln bereits vor fast einem Jahrhundert vorgeschlagen wurden, haben sie trotz kleiner Abweichungen bis heute ihre Gültigkeit behalten“, sagt Gernot Frenking von der Universität Marburg. „Sie konnten quantentheoretisch erklärt werden und finden sich in allen Textbüchern der Chemie.“
Calcium und Co: 18 statt acht
Doch die Lehrbücher haben Lücken – und das ausgerechnet bei einigen vermeintlich altbekannten Hauptgruppenelementen. Auf den ersten Blick scheinen die Erdalkalimetalle Calcium, Strontium und Barium ziemlich regelkonform: „Diese Erdalkalimetalle binden sich normalerweise wie klassische Hauptgruppenelemente durch ihre s- und p-Valenzorbitale“, erklärt Frenking. In den meisten Verbindungen geben sie dabei zwei Elektronen ab und erfüllen so die Oktettregel.
Das aber ist nicht immer so: Wie Frenking gemeinsam mit chinesischen Kollegen kürzlich herausfand, verstoßen Calcium, Strontium und Barium unter bestimmten Bedingungen gegen die Oktettregel. Lässt man sie mit Kohlenmonoxid (CO) reagieren, bilden sie Carbonylkomplexe, an denen statt acht gleich 18 Valenzelektronen beteiligt sind. Die Erdalkalimetalle verhalten sich dadurch wie Übergangsmetalle. „Wir haben damit Moleküle hergestellt, die gängige Vorstellungen über chemische Bindungen sprengen“, erklärt Frenking.
Iridium: die „unmögliche“ IX
Und es gibt noch einen Abweichler: das Element Iridium. Bei ihm haben Chemiker vor kurzem eine Verbindung mit der scheinbar „unmöglichen“ Oxidationsstufe IX entdeckt. Typischerweise gibt die Oxidationszahl an, wie viele Elektronen ein Atom bei einer chemischen Bindung abgegeben oder aufgenommen hat. Lange galt dabei VIII als die höchstmögliche Oxidationsstufe, weil kein Element mehr als acht Elektronen abgeben muss, um die Oktettregel zu erfüllen.
Sebastian Riedel von der FU Berlin und sein Team haben Iridium jedoch erstmals dazu gebracht, gleich neun Valenzelektronen abzugeben. Dies gelang ihnen, indem sie zunächst die Verbindung Iridiumtetroxid (IrO4) herstellten – ein Molekül, an dem acht Valenzelektronen beteiligt sind. Dabei bleibt jedoch im d-Orbital des Iridiums ein einzelnes Elektron übrig.
Mittels Laserbeschuss entrissen die Forscher dem Iridium nun auch noch dieses Elektron und erzeugten so ein Iridium-Tetroxid-Kation (IrO4+), das neun Valenzelektronen abgegeben hatte – die erste bekannte Verbindung mit der Oxidationsstufe IX. Überraschenderweise erwies sich diese scheinbar „unmögliche“ Konfiguration keineswegs als instabiles Kunstprodukt: Das Ion war sogar relativ stabil, wie die Chemiker berichten.
Nadja Podbregar
Stand: 12.10.2018