30. Januar 2010, London: Es ist kurz nach zehn Uhr morgens. Vor der Tür einer Filiale der Apothekenkette „Boots“ sammelt sich ein kleines Grüppchen Männer und Frauen unterschiedlichen Alters. Hin und wieder betritt einer von ihnen den Laden und kommt kurz darauf mit einem kleinen, runden Döschen oder Fläschchen in der Hand wieder hinaus – ein Arzneimittel offenbar. Dann wird es 10:23 Uhr: Auf Kommando öffnen alle ihre Döschen und Fläschchen und kippen sich den Inhalt vollständig in den Mund. Jeder von ihnen hat jetzt eine massive Überdosis des gekauften Medikaments eingenommen – bis zum 100-fachen und mehr der empfohlenen Menge. Was ist da los? Eine Sekte? Gar ein Massenselbstmord?
Nicht ganz. Die Mittel, die hunderte Freiwillige in ganz Großbritannien in diesem öffentlichen „Überdosis-Versuch“ schluckten, sind allesamt homöopathische Präparate. Die Überdosis bleibt für alle folgenlos. Initiiert von einem britischen Netzwerk von Skeptikergrupppen, richtet sich die Aktion vor allem gegen das „wissentliche Verkaufen unwirksamer Produkte“ durch Boots, wie die Organisation „10:23“ auf ihrer Website erklärt. Es werde einerseits gewollt der Eindruck erzeugt, die Homöopathie basiere auf ähnlich wissenschaftlichen Grundlagen wie die konventionellen Arzneimittel. Andererseits aber verwehre man sich gegen Forderungen nach mehr Transparenz – gerade gegenüber den Patienten.
Gefährliche Antihaltung
Was aber ist so schlimm daran, es mal mit Homöopathie zu versuchen? Absolut nichts. Die Gefahr geht nicht von den Globuli und Dilutionen aus, sondern eher von dem oft quasi-religiösen Dogmatismus vieler Homöopathie-Richtungen. Die meisten homöopathischen Ärzte sehen heute zwar keinen Widerspruch darin, sowohl medizinische als auch homöopathische Methoden in ihrer Praxis einzusetzen, auch wenn Hahnemann die „Allöopathie“ noch verteufelte. Doch gerade bei Heilpraktikern findet sich häufig eine extreme Antihaltung gegenüber der Schulmedizin.
„Wer an ‚alternative‘ Heilverfahren wie die Homöopathie glaubt, der wird oft, bewusst oder unbewusst, skeptisch gegenüber der wissenschaftlichen Medizin“, erklärt Rainer Wolf vom Biozentrum der Universität Würzburg. „Das wirkt sich sehr nachteilig aus, wenn man sich ‚schulmedizinisch‘ behandeln lässt: Bewährte Arzneien wirken weniger gut oder gar nicht, wenn der Patient Angst hat vor der ‚schädlichen Chemie‘, die darin enthalten sei, oder wenn er dem Arzt bewusst oder unbewusst misstraut.“
Eine solche „Antihaltung“ kann im Extremfall sogar lebensgefährlich werden. Dann nämlich, wenn die Grenzen der Homöopathie nicht erkannt werden und lebensrettende Maßnahmen der konventionellen Medizin deshalb zu spät oder gar nicht erfolgen. Das muss nicht einmal der Verzicht auf eine Chemotherapie bei Krebs sein. Schon wenn ein Homöopath eine schwere Lungenentzündung oder einen beginnenden Herzinfarkt nur mit Kügelchen therapiert statt den Patienten ins Krankenhaus zu schicken, grenzt das an Körperverletzung. Solche Grenzen sieht auch der Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte: „Sind Funktionen eingeschränkt und Strukturen – Gewebe oder Organe – zerstört, kann keine adäquate Reaktion erfolgen. Eine gewebszerstörende Krankheit lässt keine homöopathische Heilung mehr zu.“
Nadja Podbregar
Stand: 26.03.2010