Noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts galt die Fähigkeit, verschiedene Wahrnehmungen miteinander verschmelzen zu können, als Faszinosum und als Ideal – hatten doch schon antike Philosophen, der Physiker Isaac Newton und sogar der große Goethe über Farben und den Zusammenhang verschiedener Wahrnehmungen sinniert.
Der griechische Gelehrte Aristoteles beschrieb rund 350 vor Christus Parallelen in der Harmonie der Farben und der der Klänge und eine Verknüpfung von bestimmten Geschmacksrichtungen mit Farben. So korrespondierte bei ihm süß mit weiß und scharf mit grün. Im Jahr 1704 ordnete Isaac Newton in seiner Schrift „Optik“ den Farben des Spektrums bestimmte musikalische Intervalle zu: Orange entsprach einer kleinen Terz, grün einer Quinte.
„Abgrund dunklen Schattens“
Noch einmal 200 Jahre später griffen vor allem Künstler diese Ideen wieder auf. Die multisensorische Wahrnehmung wurde im 19. Jahrhundert vielfach als die eigentliche, die vollkommenste Art der Wahrnehmung überhaupt gesehen. Maler, Schriftsteller und Komponisten strebten aktiv danach, Klänge zu malen, Bilder zu schreiben oder ganze Farbsymphonien zu komponieren.
Der französische Schriftsteller Arthur Rimbaud schwelgte in seinem Sonett „Voyelles“: „A, schwarz, glitzernd vor Fliegen, […] ein Abgrund dunklen Schattens; E, die Anmaßung der Gletscher, Dampf, Zelte, weiße Könige, das Beben einer fedrigen Hölle; I, rot, ausgespienes Blut….“ Charles Baudelaire schrieb in seinen Correspondances: „Gerüche, Farben und Töne antworten einander.“ Beide Dichter, selbst keine Synästheten, folgten damit dem Trend der Zeit. Baudelaire könnte jedoch zumindest Erfahrungen mit drogeninduzierter Synästhesie gemacht haben. Er konsumierte häufiger Haschisch, das ähnliche Effekte von Sinnesüberlagerungen hervorrufen kann.
Lichtorgel im Konzertsaal
Der russische Komponist Alexander Scriabin ließ im Jahr 1910 seine Symphonie „Prometheus“ nicht nur mit Orchester, Klavier und Chor, sondern auch mit einer speziell angepassten Lichtorgel aufführen. Sie erzeugte Strahlen, Wolken und andere Lichteffekte im Konzertsaal, die in einem weißen, gleißenden Finale gipfelten. Der Maler Wassily Kandinsky versuchte explizit, Klangeindrücke als Formen auszudrücken und beschrieb seine gestalterischen „Kompositionen“ mit musikalischen Begriffen. Im Jahr 1912 komponierter er eine Oper, „Der Gelbe Klang“, in der er seine Vorstellung eines Gesamtkunstwerks aus Farben, Licht, Tanz und Klängen umsetzte. Nach heutiger Kenntnis waren weder Scriabin noch Kandinsky Synästheten, aber von der Vorstellung einer sinnesübergreifenden Wahrnehmung fasziniert.
Kandinsky: Reiner Ton und Kakophonie
Interessanterweise scheint aber zumindest Kandinsky in seinen Bildern doch synästhetische Prinzipien verwirklicht zu haben, wie Wissenschaftler des University College London kürzlich herausfanden: Sie zeigten Synästheten, bei denen Farben und Klänge verbunden waren, das Bild „Komposition VIII, 1923“ von Kandinsky und baten sie, ihre Eindrücke zu beschreiben.
Einer erklärte: „Die durcheinander geworfene Masse von Linien erzeugte verschiedene Töne, die sich veränderten, als meine Augen im Bild herumwanderten. Als ich den großen, vielfarbigen Kreis oben links betrachtete, erhielt ich einen reinen Ton, der zu viel werden kann, daher erleichtere ich meinen Geist, indem ich wieder zurück zu der Kakophonie der durcheinander gewürfelten Linien und Formen wandere. Dieses Bild ist eine gute Balance von kontrastierenden Geräuschen – reinen Tönen und Kakophonie. Je mehr ich es mir anschaute, desto besser gefiel mir das Bild und seine Musik.“
Nadja Podbregar
Stand: 06.05.2011