Die Himmelsbeobachtung hat in Indien eine jahrtausendelange Tradition. Schon in der Stein- und Eisenzeit errichteten die Menschen auf dem Subkontinent Megalith-Anlagen, die nach bestimmten Himmelsrichtungen ausgerichtet waren – ähnlich wie ihre Zeitgenossen in Europa. So gibt es in Südindien mehrere Menhir-Alleen und gitterähnliche Anlagen, deren Linien genau nach Nord-Süd und Ost-West zeigen.
Sichtlinien zur Sonnenwende
Auf ein astronomisches Wissen könnten die Megalith-Anlagen von Nilaskal und Baise im südindischen Bundesstaat Karnataka hindeuten. Sie bestehen aus Paaren oder Trios von Menhiren, die auf den Sonnenaufgang und -untergang ausgerichtet sind. „Die Steine bilden Sichtlinien zu den Punkten am Horizont, an denen die Sonne zu den Sonnenwenden aufgeht oder untergeht“, berichten Srikumar Menon und Mayank Vahia von der Manipal Universität. „Damit bilden sie eine Art Sonnenwenden-Observatorium.“
In Baise sind einige Menhire möglicherweise sogar nach bestimmten Sternen ausgerichtet. Wie die Forscher feststellten, bilden sie zwei Sichtlinien, eine zeigt auf 318 Grad, die andere auf 348 Grad. „In der Zeit um 1.000 vor Christus gingen die Sterne Arkturus, Wega, Deneb und Kapella bei 348 Grad unter, Regulus und Pollux bei 318 Grad“, erklären Menon und Vahia. Sie halten es daher für möglich, wenn auch nicht bewiesen, dass die Menschen jener Zeit auch dem Lauf bestimmter Sterne schon Bedeutung beimaßen.
Astronomie am Indus
Eine wichtige Rolle könnte die Astronomie in der Indus-Zivilisation vor rund 5.000 Jahren gespielt haben. Weil aber die Schrift dieser rätselhaften Hochkultur bis heute nicht entziffert ist, bleibt ihr wissenschaftlich-religiöses Weltbild ebenso unklar wie ihr Wissen um die Astronomie. „Es erscheint aber logisch, dass eine so fortgeschrittene Zivilisation wie diese bereits die Fähigkeit zur Himmelsbeobachtung hatte“, sagen Vahia und Menon. „Denn dies wäre nützlich für die Navigation, aber auch für Kalenderfunktionen wie die Bestimmung der Tageszeit, der Jahreszeiten und vielleicht sogar längerer Zeitabschnitte.“
Tatsächlich deuten Funde in der Ruinenstadt Dholavira darauf hin, dass die Harappa möglicherweise spezielle Rundbauten als Sonnen- und Sternenobservatorien nutzten. Weitere Hinweise liefern die Veden, die ältesten religiösen Schriften Indiens. Denn die darin beschriebenen Kalender-Konstellationen stammen aus der Zeit um 2300 vor Christus – und damit aus der Blütezeit der Indus-Zivilisation.
Austausch mit Griechenland, China und dem Mittleren Osten
Die indische Astronomie entwickelte sich aber keineswegs in Isolation vom Rest der Welt – im Gegenteil. In der Antike gelangten mit den Feldzügen von Alexander dem Großen erste griechische Himmelsvorstellungen und astronomische Instrumente in den fernen Osten. Dazu gehörten Sonnenuhren, aber auch die Vorstellung einer kugelförmigen Erde.
Umgekehrt übte die indische Astronomie einen bedeutenden Einfluss auf die chinesische Himmelskunde aus. Bereits während der späten Han-Dynastie im ersten und zweiten Jahrhundert kursierten übersetzte Schriften indischer Astronomen im Reich der Mitte. Auch die arabischen Gelehrten nutzten wenige Jahrhunderte später Formeln aus übersetzten indischen Schriften als Grundlage für ihre astronomischen Berechnungen.
Im fünften Jahrhundert erklärte der indische Astronom Aryabhata als einer der Ersten in seinen Schriften, dass sich die Sterne nur scheinbar um die Erde bewegen. Stattdessen erzeuge nur die Rotation der Erde um ihre Achse diese Illusion. Er vermutete auch schon, dass der Mond nicht aus sich selbst heraus leuchtet, sondern dass sein Schein auf reflektiertes Sonnenlicht zurückgeht.
Nadja Podbregar
Stand: 15.09.2017