DNA-Piraten

Die Suche nach dem Mechanismus – erster Teil

Krebszellen sind soziale „Missfits“: sie entziehen sich der Kontrolle des Organismus, wuchern scheinbar unbeirrbar und zerstörerisch im Körper und vererben ihre destruktives Potenzial auch noch an alle ihre Nachkommen. Und doch entstehen sie aus ganz normalen Zellen. Aber wie? Und welche Rolle spielen dabei Viren und andere Erreger? Genau diese Frage stellt sich auch Renato Dulbecco, Krebsforscher am California Institute of Technology (Caltech). Seit der Rehabilitierung von Peyton Rous sind Tumorviren zwar kein Tabuthema in der Krebsforschung mehr, doch über ihre Wirkungsweise ist so gut wie nichts bekannt.

Hamsterzelle bei der Zellteilung © NCI

1960 führt er gemeinsam mit seiner Kollegin Marguerite Vogt Laborversuche durch, bei denen er Hamsterzellen mit einem relativ einfach gebauten DNA-Virus, dem Polyoma-Virus, infiziert. Planmäßig beginnen sich die Zellen zu verändern und Tumore treten auf. Doch dann entdecken die Forscher Ungewöhnliches: Sobald die Umwandlung zu Krebszellen eingesetzt hat, stoppt auch die Vermehrung der Viren. Statt wie normalerweise bei einer Infektion üblich, sämtliche Ressourcen der Zelle für die Virenproduktion einzuspannen, stagniert deren Anzahl in der Kultur. Aber warum?

Ein Virus hinterläßt Fußabdrücke…

Für Dulbecco gibt es nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder löst das Virus die Transformation der Zelle aus und geht dabei zugrunde, oder es bleibt in der Zelle zwar präsent, kann sich aber nicht mehr vermehren. Einige Zeit und viele Experimente später hat der Wissenschaftler die Antwort: Er findet verräterische „Fußabdrücke“ des Virus in den transformierten Zellen und kann damit die erste Vermutung ausschließen – der Erreger ist offensichtlich noch vorhanden.

Mithilfe von molekularbiologischen Methoden kann er schließlich auch nachweisen, warum das Virus so seltsam inaktiv scheint: Ein für die Vermehrung wichtiger Teil seiner DNA steht nicht mehr zur Verfügung, weil es in das Genom der Zelle eingebaut wurde. Obwohl das insertierte DNA-Stück des Virus nur rund sieben verschiedene Proteine kodiert, scheint diese Information bereits auszureichen, um die Zellprozesse außer Kontrolle geraten zu lassen.

Gegen das Dogma

Während Dulbecco bei der Veröffentlichung seiner Ergebnisse großes Aufsehen, aber kaum Widerspruch erweckt, hat ein anderer Forscher, Howard Temin, ein junger Biologe an der Universität von Wisconsin, weniger Glück. Temin nutzt im Unterschied zu Dulbecco den Rous-Sarkoma-Virus, ein RNA-Virus, als Forschungsobjekt, kommt aber in seinen Experimenten zum gleichen Ergebnis: Das Virus muss dem Genom der Zelle etwas hinzufügen, das die Zellveränderungen auslöst, schreibt er 1964 in einer Veröffentlichung. Seiner Ansicht nach „übersetzt“ das Virus dazu seine als RNA kodierte Erbinformation zunächst in DNA, den „Provirus“, um diesen dann in die zelluäre DNA einzuschleusen.

DNA-Isolierung im Labor © NCI

Mit dieser Hypothese begeht er jedoch einen großen „Fehler“: Er stellt das zentrale Dogma der Molekularbiologie der damaligen Zeit in Frage. Nach diesem findet der Informationstransfer in lebenden Zellen immer von der DNA zur RNA und schließlich zum Protein statt – niemals aber umgekehrt. Temins Vorschlag eines Provirus, der genau diese „falsche“ Richtung nutzt, grenzt daher für die Mehrheit seiner Wissenschaftlerkollegen geradezu an Ketzerei. Entsprechend empört und höhnisch ist die Reaktion.

Auch hier braucht es fast zehn Jahre und die „Amtshilfe“ eines Kollegen, bis der diskreditierte Forscher Recht erhält. Ende der 1970er Jahre verpassen Temin und der Biologe David Baltimore dem Dogma endgültig den Todestoß. Beide entdecken unabhängig voneinander ein Enzym in den von Tumorviren befallenen Zellen, das RNA in DNA übersetzen kann und dies auch nachweislich tut. Das Einschleusen dieser „Provirus-DNA“ in das Erbgut der Zelle kann ebenfalls an Experimenten belegt werden.

Dulbecco, Temin und Baltimore erhalten für diese bahnbrechenden Erkenntnisse zur Biologie der Tumorviren im Jahr 1975 den Nobelpreis. Doch den genauen Mechanismus der Entstehung von Krebs durch Viren und die Frage, ob auch menschliche Tumoren durch solche Viren ausgelöst werden, können auch die drei noch nicht beantworten. Temin erklärt dazu in seiner Nobelpreisrede vorsichtig: „Ich glaube nicht, dass infektiöse Viren die Ursache für die meisten menschlichen Tumoren sind, denke aber, dass die Viren uns Modelle für die Entwicklung des Krebses liefern können.“

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Stand: 15.10.2004

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Viren und Krebs
Entdeckungsgeschichte einer „unmöglichen“ Beziehung

Ein Huhn macht den Anfang
Die Entdeckung der Krebsviren

DNA-Piraten
Die Suche nach dem Mechanismus – erster Teil

Tumorviren ohne Infektion?
Auf der Suche nach dem Krebsgen

Der Innere Feind
Das Geheimnis der Onkogene

Krebs durch Viren auch beim Menschen?
HTLV-1 und der erste Beweis

Der Modellfall
HPV und Gebärmutterhalskrebs

Ein kleiner Schluck für einen Forscher…
Helicobakter pylori und die Magenkrebs-Connection

Glossar
Begriffe rund um Viren, Krebs und Gene

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