Für viele andere Hochkulturen sind Tempel und prunkvolle Weihestätten typisch – nicht so für die Minoer. Sie huldigten ihren Gottheiten offenbar lieber in der freien Natur – in Höhlen und auf Berggipfeln – oder aber an kleineren Schreinen innerhalb ihrer Paläste. Wie genau ihre Götterwelt jedoch aussah und wie ihre Rituale, dazu ist bisher trotz vieler archäologischer Fundstücke nur wenig bekannt.
Berühmt sind aber typische Symbole und Figuren der minoischen Glaubenswelt wie die Doppelaxt, die Schlangen tragende Priesterin oder der Stier. Auf Kreta haben Archäologen unzählige Doppeläxte gefunden, darunter einige aus Gold, andere mit eingeritzten Schriftzeichen und viele übermannshoch. Sie könnten bei rituellen Opferungen eingesetzt worden sein, sind aber auch Symbol für weibliche Gottheiten. Dazu passen die Frauenfiguren mit Schlangen in ihren Händen, denn das Reptil war in vielen frühen Kulturen ein Fruchtbarkeitssymbol.
Göttinnen und zwei nicht entzifferte Schriften
Wie die ihnen nachfolgenden Griechen glaubten auch die Minoer an mehrere Gottheiten. Diese waren oft eng mit Tieren verknüpft oder wurden durch Tiere symbolisiert. So sind auf den Fresken oft Frauenfiguren zu sehen, die von Löwen, Affen, Greifen, Schlangen und Wassertieren wie Fischen und Delfinen begleitet sind. Inschriften sprechen von einer Göttin der Winde, einer Geburtsgöttin und auch der Schlangengöttin Asara. Auch Mensch-Tier-Mischwesen tauchen auf.
Ausgrabungen zeigen, dass die Minoer ihren Göttern Gefäße mit Getreide und Tieropfer darbrachten, ihren Dank zeigten sie in Votivgaben zum Ausdruck, kleinen Lehmfiguren, die betende Menschen, Körperteile oder Tiere darstellten. Welche Rituale diese Opfergaben begleiteten, ist allerdings unbekannt. Ein Grund dafür: Es gibt so gut wie keine Beschreibungen davon. Zwar nutzten die Minoer gleich zwei verschiedenen Schriftsysteme, eine Hieroglyphenschrift und die der Keilschrift ähnliche Linearschrift A. Beide sind jedoch bisher gar nicht oder nur in Ansätzen entziffert.
Vom Stiersprung-Ritual zum Minotaurus
Ebenso mythenreich wie rätselhaft ist der Stierkult der Minoer. Abbildungen auf Fresken und Vasen zeigen immer wieder junge Männer, die Stiere an den Hörner packen oder über sie hinweg springen. Gleichzeitig sind viele Schreine mit Doppelhörnern oder Stierköpfen verziert. Archäologen vermuten daher, dass die Minoer rituelle Stiersprünge veranstalteten, bei der junge Männer den Stier bei den Hörnern zu packen versuchten oder sich über seinen Rücken hinweg schwangen – eine lebensgefährliche Übung. Ob dies dabei quasi mit einkalkuliert war, sozusagen als Opfer für die Götter, ist strittig.
Dieser Stierkult ist wahrscheinlich auch der Ursprung des berühmten Minotaurus aus der griechischen Sagenwelt. Dieses Ungeheuer mit Menschenkörper und Stierkopf wurde der Legende nach in einem Labyrinth unter dem Palast des kretischen Königs Minos gefangen gehalten. Ihm sollen regelmäßig junge Männer und Frauen geopfert worden sein, die von anderen Ägäisreichen als Tribut nach Kreta entsandt werden mussten. Erst der griechische Held Theseus schaffte es, den Minotaurus zu töten und dem Labyrinth mit Hilfe von Minos‘ Tochter Ariadne zu entkommen.
Wie viel Wahres sich hinter der mythischen Verbrämung dieser Sage Verbirgt, ist strittig. Einige Forscher halten es aber für möglich, dass tatsächlich junge Männer als Tribut nach Kreta geschickt wurden und dass diese an den rituellen Stiersprüngen teilnehmen mussten. Belege gibt es dafür jedoch nicht.
Nadja Podbregar
Stand: 18.07.2014