Ein glitschiger Blutegel bewegt sich langsam über die Haut. Dann saugt er sich mit den Saugnäpfen an seinen beiden Körperenden fest. Vorne, im Mundsaugnapf, befinden sich drei Kiefer, die ein wenig an einen Mercedesstern erinnern. Mit diesen Kiefern, von denen jeder etwa 80 Kalkzähne trägt, beißt er sich fest und raspelt sich durch die Haut seines Opfers. Mit wellenförmigen Bewegungen seines dunklen Körpers saugt der Ringelwurm nun Blut, bis er satt ist.
Dieses Ereignis verbindet man eher mit einer Szene aus einem Horrorfilm, bei dem der Held durch ein modriges Gewässer voller Alligatoren, Egel und Piranhas schwimmt, als mit einer seriösen und modernen Behandlungsmethode. Kein Wunder, dass viele Menschen vor der Blutegel-Therapie zurückschrecken. Einerseits rufen Würmer generell Ekelgefühle hervor, tummeln sie sich doch in verwesenden Leichen und befallen als Parasiten den menschlichen Darm. Die Befürchtung, ein Egel könne einem Menschen eine riesige Menge Blut aussaugen, ist jedoch unbegründet. Gerade mal sechs bis zehn Milliliter Blut braucht ein Egel zum Sattwerden, erst nach sechs Monaten muss er dann die nächste Mahlzeit zu sich nehmen.
Lebende Apotheken
Kleine lebende Apotheken werden die Blutegel indes von ihren immer zahlreicheren Bewunderern genannt. Und das durchaus zurecht: Durch einen Biss des Tiers wird die Blutgerinnung an der Bissstelle gehemmt, das Immunsystem stimuliert, der Schmerz gelindert und Thrombosen aufgelöst. Einige der nützlichen Substanzen seines Speichels sind Hirudin (macht das Blut dünnflüssiger), Histamin (erweitert die Blutgefäße in dem betreffenden Bereich) und Eglin (wirkt entzündungshemmend).
Daher ist die Behandlung mit Blutegeln mehr als nur ein Aderlass im Kleinen. Da durch den Speichel des Tieres das Blut dünnflüssiger wird und gleichzeitig weniger schnell gerinnt (in der Natur stellt der Egel so sicher, dass seine Nahrungsquelle nicht vorschnell versiegt), nutzen Blutegel überall da, wo Eindickungen oder Verlangsamung des Blutstroms auftreten. Durch die Substanzen des Egel-Speichels wird der Stau beseitigt und das alte Blut wird abtransportiert, bevor es sich entzünden kann.
Krampfader, Thrombosen, verschiedene Entzündungen, rheumatische Erkrankungen, und sogar Kopfschmerzen und Gürtelrosen kann Dr. Blutegel auf diese Weise behandeln. Auch bei abgetrennten Fingern kann der Egel helfen: Beim Wiederannähen kommt es oft zu einem Blutstau in den Venen – der angenähte Finger droht abzusterben. Der Biss des Ringelwurms setzt Blut- und Lymphfluss wieder in Gang und kann so diese Gefahr abwenden.
Blutegel: Die Rückkehr
Kein Wunder, dass die Tierchen schon vor 3.000 Jahren im Orient erfolgreich zur Therapie eingesetzt wurden. Nach Europa kamen die Blutsauger erst im ersten Jahrhundert v. Chr., wo sie „krankmachende Körpersäfte“ entfernten. Ende des 19. Jahrhunderts kamen die kleinen Helfer dann richtig in Mode. In ihrem Eifer setzten die Ärzte dann bis zu 100 Egel auf einmal auf einen Patienten. Diese große Menge konnte dann doch schon mal zu einem gefährlichen Blutverlust und dem Tod des Kranken führen. Dadurch kam die Therapie in Verruf, außerdem passte sie später dann nicht mehr so recht zu den neuen, fortschrittlichen Methoden.
Heutzutage erlebt der Einsatz der „kleinen Apotheken“ wieder eine Renaissance, in Deutschland werden jährlich etwa 300.000 bis 400.000 Egel zu medizinischen Zwecken eingesetzt. Dabei werden die Tiere nicht aus irgendwelchen Teichen gefischt, sondern eigens zu diesem Zweck gezüchtet.
Doch es wird auch schon an Alternativen gearbeitet, die empfindlichen Patienten den Ekel-Schock durch die saugenden Würmer ersparen sollen. Wissenschaftler der University of Wisconsin-Madison haben dazu einen künstlichen Blutegel entwickelt: ein Gerät, dass mechanisch Blut absaugt und dabei Heparin als Gerinnungshemmer in die Wunde einleitet. Eigentlich ja ziemlich überflüssig, aber Ekel ist eben doch ein starkes Gefühl, das nicht jeder überwinden kann.
Stand: 13.05.2005