Stellen Sie sich vor, Sie sitzen bei Sonnenuntergang an einem Strand: Die Sonne versinkt als glühender Feuerball hinter dem Horizont und lässt Himmel und Meeresoberfläche in intensivem Orangerot erstrahlen. Weit hinten zeichnet sich die dunkle Silhouette eines Frachtschiffs vor dem Himmel ab. Sehen Sie es vor sich? Wenn ja, funktioniert ihre visuelle Vorstellungskraft bestens – bei den meisten Menschen entstehen unwillkürlich mehr oder weniger klare Bilder im Kopf.

„Da ist nur Dunkelheit“
Doch bei Menschen mit Aphantasie ist das anders: „Die Aphantasie macht mein geistiges Auge blind – ich kann meine Gedanken nicht visualisieren“, beschreibt die US-Amerikanerin Neesa Sunar ihre Erfahrungen. „Wenn ich meine Augen schließe, ist da nur Dunkelheit. Ich habe dann keine Sinneseindrücke.“ Andere Menschen sehen vor ihrem geistigen Auge Bilder, Formen und Farben, wenn sie sich erinnern, eine Geschichte lesen oder tagträumen. Bei Sunar bleibt die innere Leinwand dunkel.
Dass dieses Fehlen der visuellen Vorstellung etwas Ungewöhnliches ist, ist auch vielen Betroffenen zunächst nicht klar. Denn meist besteht die Aphantasie schon von Geburt an. Den Unterschied bemerken Menschen mit Aphantasie daher oft erst dann, wenn andere Menschen von ihren inneren Bildern oder den mit Erinnerungen verknüpften Sinneseindrücke berichten. So ging es auch Sunar: Erst als andere in einer Chat-Gruppe auf innere Bilder zu sprechen kamen, wurde ihr klar, dass sie diese nicht hat.
Fundamental und doch nicht immer da
Die Erkenntnis, dass ihnen etwas fehlt, das andere haben, ist für viele Betroffene zunächst ein Schock. So begriff der junge Kanadier Tom Ebeyer erst mit 21, dass die Innenwelt seiner Freundin völlig anders aussieht als seine eigene. „Es hat mich emotional hart getroffen. Mir war vorher nicht einmal bewusst, dass mir da etwas fehlte. Ich fühlte mich isoliert – unfähig zu etwas, das doch so zentral für die Erfahrungen des durchschnittlichen Menschen ist“, schildert er. Ähnlich empfand es Sunar: „Ich fühlte mich traurig, weil mir eine so grundlegend menschliche Erfahrung entgeht. Es ist, als wenn mir eine Sinneswahrnehmung fehlt und ich blind oder taub bin“, schildert sie ihre Empfindungen.