Medizin

Ein Bergarbeiterdorf wird zum Labor

Die Pionierstudie "Rhonda Fach Scheme"

Bei Austin Bradford Hill bildet sich Cochrane ab 1945 in der Epidemiologie fort. Im Rahmen dieses Studiums absolviert er einen einjährigen Forschungsaufenthalt in Philadelphia. Dort wendet sich sein Interesse erstmals den Problemen der Röntgendiagnostik von Lungentuberkulose und deren epidemiologischen Implikationen zu. Zurück in der Heimat wird ihn dieses Thema weiter begleiten – und ihn zu einer Untersuchung mit Pioniercharakter veranlassen: der Studie „Rhonda Fach Scheme“.

Tuberkulose-Erreger Mycobacterium tuberculosis © NIH

Rhonda Fach ist ein Tal im Rhonda Valley, einem Bergbaurevier in Südwales, nördlich von Cardiff. Zwei Bergarbeitergemeinden in diesem Tal werden ab 1950 zu Cochranes Studienobjekten. Ein Jahr zuvor ist er mit großen Plänen im Gepäck einer Forschungseinheit des Medical Research Council in Cardiff beigetreten: Er will einer schweren Komplikation der Staublunge bei Bergarbeitern auf die Schliche kommen, der sogenannten progressiven, massiven Fibrose (PMF).

Tuberkulosefahndung im Bergbaurevier

Unter Forschern ist in dieser Zeit der Verdacht aufgekommen, dass die krankhafte Vermehrung von Bindegewebsfasern in der Lunge womöglich gar nicht vom Staub allein ausgelöst wird. Stattdessen könnte eine zusätzliche Tuberkuloseerkrankung die Fibrose (mit-)verursachen. Ob das tatsächlich zutrifft, will Cochrane nun im Rahmen einer groß angelegten Untersuchung unter Minenarbeitern herausfinden.

Seine Idee: Schafft man es, mithilfe von Röntgenuntersuchungen Fälle von Tuberkulose in der Bevölkerung rechtzeitig zu erkennen, diese Leute zu behandeln und somit die Erkrankungsrate zu minimieren, müsste auch die Prävalenz von PMF zurückgehen – vorausgesetzt, der vermutete Zusammenhang stimmt.

Auf Röntgenmission: Cochrane (links) und seine Forscherkollegen vom Medical Research Council im Jahr 1953. © Fellowship of Postgraduate Medicine

Klinken putzen für die Wissenschaft

Für das ambitionierte Projekt klopfen Cochrane und seine Mitarbeiter an jede Tür der als Interventionsgruppe auserwählten Gemeinde im Rhonda Valley. Schließlich soll möglichst jeder Einwohner geröntgt und weitergehend untersucht werden. Als Kontrollgruppe dient eine zweite Gemeinde. Hier rücken die Wissenschaftler nicht mit ihren Röntgengeräten an.

Cochranes Team schafft es, erstaunlich viele Menschen als Probanden zu gewinnen: Gut 95 Prozent der Bevölkerung nehmen an dem Projekt teil. Insgesamt untersuchen die Forscher rund 25.000 Bewohner der Gemeinde, darunter Männer, Frauen und Kinder. Damit schreibt Cochrane Geschichte: Er ist der Erste, der nahezu eine ganze Bevölkerung in ein kontrolliertes Experiment einbezieht.

Jahrelange Forschung

Zu einem aussagekräftigen Ergebnis kommt die Studie dennoch nicht. Denn mit der zunehmenden Verbreitung von Antibiotika werden auch in der Kontrollgemeinde Tuberkulosefälle immer seltener. Diese zusätzliche Einflussgröße macht es schwer, die Resultate sinnvoll zu interpretieren. Es scheint jedoch schließlich, als spiele die Tuberkulose für PMF kaum eine Rolle. Archie Cochrane verlegt deshalb den Schwerpunkt seiner Forschung: Von nun an untersucht er den Zusammenhang zwischen der Staubbelastung und der Entwicklung einer Staublunge. Die Studien führt er über Jahre fort.

Mit seinen aufwendigen Untersuchungsdesigns rund um die Gesundheit der Bergarbeiter von Rhonda zeigt Cochrane eindrücklich, dass er keine Arbeit scheut, um methodisch hochwertige Forschung durchzuführen, zu propagieren und zu fördern. Fakten und Daten in großen Mengen zu sammeln und auszuwerten, scheint aus heutiger Sicht keine bahnbrechende Idee zu sein. In vielen Bereichen der Medizin ist dieser Ansatz zu Cochranes Zeit jedoch genau das.

  1. zurück
  2. |
  3. 1
  4. |
  5. 2
  6. |
  7. 3
  8. |
  9. 4
  10. |
  11. 5
  12. |
  13. 6
  14. |
  15. weiter

Daniela Albat
Stand: 02.12.2016

Keine Meldungen mehr verpassen – mit unserem wöchentlichen Newsletter.
Teilen:

In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Cochrane: Pionier der evidenzbasierten Medizin
Ein Arzt kämpft für methodisch gute Forschung

Auf Umwegen zum Mediziner
Unsteter Beginn eines Forscherlebens

Wirksam oder unwirksam?
Prägende Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft

Ein Bergarbeiterdorf wird zum Labor
Die Pionierstudie "Rhonda Fach Scheme"

Harsche Kritik, die nachhallt
Das Buch "Effectiveness and Efficiency"

Cochranes Vermächtnis
Die Gründung der Cochrane Collaboration und der Begriff der EbM

Diaschauen zum Thema

News zum Thema

Mauschelei bei Arzneimitteltests
Nur die wenigsten klinischen Studien werden vollständig und ohne Abweichungen veröffentlicht

Placebos wirken auch ohne Täuschung
Wirkung von Placebos beruht nicht nur auf dem Glauben des Patienten

„Publication Bias“ bei klinischen Studien bestätigt
Verzerrung der Ergebnisse durch Ungleichheit in der Veröffentlichungspraxis

Tauziehen um klinische Studien
Wissenschaftsrat fordert Registrierung für mehr Transparenz

Dossiers zum Thema