Genauso wie für ihre Genetik interessieren sich Wissenschaftler auch für die Zwillinge selbst. Was macht es mit ihnen, ein Zwilling zu sein? Wie empfinden sie ihre eigene Identität? Wie unterscheiden sich eineiige von zweieiigen Zwillingen oder normalen Geschwistern in ihrer Persönlichkeit und besitzen sie wirklich diese besondere Verbindung unter Zwillingen?
Über die sagenhafte Verbundenheit von Zwillingen gibt es unzählige Geschichten. Man liest von Zwillingen, die gegenseitig ihre Schmerzen spüren oder quasi-telepathisch verbunden sind, die sich gegenseitig identische Geschenke kaufen oder gegen Spiegel laufen, weil sie meinen, dort ihr Gegenstück zu erspähen.
Eine besondere Verbindung?
Doch existiert das sagenumwobene, unsichtbare „Zwillingsband“? Laut einigen Wissenschaftlern wohl eher nicht. In einer Studie verglichen Entwicklungspsychologen aus Braunschweig eineiige sowie zweieiige Zwillinge und normale Geschwister, um ihre Beziehungen zu untersuchen und herauszufinden, ob die Verbindung eineiiger Zwillinge tatsächlich einzigartig ist. Ihre Vermutung: Je weniger sich die Geschwister ähneln, desto weniger wichtig ist ihnen ihre Beziehung. Überraschenderweise waren die Ergebnisse jedoch andere.
Fast allen Kindern war es am wichtigsten, bei den Geschwistern Rückhalt und Unterstützung zu finden, unabhängig davon ob Zwilling oder normales Geschwister. Außerdem gilt laut den Forschern für alle Geschwisterarten gleichermaßen, dass sie sich in ihrer Persönlichkeitsentwicklung maßgeblich beeinflussen. Sie kamen daher zu dem Schluss, dass das legendäre, unsichtbare Band zwischen Zwillingen nicht per se besteht. In vielen Fällen stehen sich diese emotional nicht näher als normale Geschwister auch.
Doch es gibt auch Forschungsteams, die zu anderen Ergebnissen kamen. Nach diesen könnten Zwillinge sehr wohl eine außergewöhnliche Verbindung besitzen. Indizien für diese enge Verbundenheit glauben unter anderem die Psychologen Caroline Tancredy und Chris Fraley von der University of Illinois at Urbana-Champaign gefunden zu haben. Sie untersuchten die Beziehungen zwischen Zwillingen, Eltern und Geschwistern anhand von Fragebögen und fanden heraus, dass der jeweilige Zwilling stets die wichtigste Bezugsperson darstellte, deutlich mehr als andere Geschwister, Eltern oder sogar Partner. Sie konnten aus dieser Beziehung etwas gewinnen, das ihnen keine andere geben konnte.
Erstaunliche Übereinstimmungen
Als eine der erstaunlichsten und daher sehr prominenten Erzählungen gilt der Lebensweg der Zwillinge Jim Springer und Jim Lewis, die bei der Geburt getrennt wurden und sich erst 39 Jahre später wieder begegneten. Durch ihre außergewöhnliche Lebensgeschichte begründeten sie die Erforschung von getrennt aufgewachsenen Zwillingspaaren.
Denn beide wurden nicht nur von ihren Adoptiveltern zufällig Jim getauft. Beide liebten in der Schule auch Mathematik und hassten Rechtschreibung, sie nannten ihren Hund Toy und waren zweimal verheiratet. Das erste Mal mit einer Linda, das zweite Mal mit einer Betty. Auch ihren ersten Sohn nannten sie fast gleich, James Alan und James Allan. Beide arbeiteten zeitweise als Hilfspolizist und kauen an den Fingernägeln. Außerdem rauchen sie die gleiche Zigarettenmarke und trinken das gleiche Bier. Auch ihr Auto hatte die gleiche Farbe und Marke. Jahrelang sind sie im Urlaub an den gleichen Strand in Florida gefahren und beide haben eine runde weiße Bank um einen Baum im Garten.
In Untersuchungen lieferten die beiden Zwillingsbrüder zudem nahezu identische Testergebnisse, sogar ihre Gehirnwellenmuster waren kaum zu unterscheiden. In dieser Geschichte hat wohl auch der Zufall seine Finger im Spiel gehabt, doch trotzdem zeigt sie auf anschauliche Weise, wie besonders eine Verbindung unter Zwillingen sein kann. Und das sogar, wenn sie sich nicht einmal kennen.
Identitätsentwicklung – Ich oder wir?
Doch es hat nicht nur Vorteile, ein Zwilling zu sein. Das zeigt eine Besonderheit in der Entwicklung von Zwillingen, die schon früh auffällt: die Schwierigkeit sich der eigenen Identität bewusst zu werden und diese zu auszubilden. Als Baby brauchen Zwillinge einige Monate länger, um sich selbst im Spiegel zu erkennen, weil sie meinen, ihren Zwilling dort zu sehen. Auch das Wort „Ich“ gebrauchen sie erst einmal nicht. Häufig erfinden Zwillinge ein Wort, dass sie beide beschreibt oder entwickeln sogar eine eigene Sprache.
Mit der Zeit erkennen aber auch Zwillinge sich selbst als Individuen und schon im Kindergarten beginnen sie eigene Freundschaften zu knüpfen. In der Pubertät wollen sich viele Zwillingsgeschwister stärker voneinander abgrenzen und kleiden oder verhalten sich oft bewusst anders. Doch auch hier kann ihre Gleichartigkeit zum Hindernis werden. Denn egal wie unterschiedlich die Zwillinge auch sein mögen, sie werden von ihrem Umfeld trotzdem häufig als „Doppelpack“ wahrgenommen.
Ständiger Vergleich
Eine weitere Hürde in ihrer persönlichen Entwicklung stellt der mangelnde Vergleich mit anderen dar. Normalerweise ist dieser wichtig, um sich selbst und seine Fähigkeiten einschätzen zu können. Zwillinge werden allerdings häufig untereinander verglichen und schon kleine Abweichungen ihrer Fähigkeiten führen dazu, dass sie unverhältnismäßig eingestuft werden. Dann kann die eine als sportlich, die andere als unsportlich bewertet werden, obwohl das im Vergleich mit anderen so nicht der Fall wäre.
Daraus resultiert oft eine „Arbeitsteilung“, in der jeder Zwilling immer das macht, was er ein bisschen besser kann. In der Identitätsentwicklung für Zwillinge ist es dann herausfordernd, sich trotzdem individuell auszuprobieren und zu erkennen, in welchen Bereichen man wirklich gut ist. Ein zusätzliches Problem, dass Zwillingen eine Abgrenzung erschweren kann, ist ein zeitlich unterschiedliches Bedürfnis nach dieser Abtrennung. Wenn sich beispielsweise ein Zwilling früher durch neue Freunde oder Lebenspartner loslöst, kann sich der andere sich dadurch zurückgesetzt fühlen.
Nach einer solchen bewussten Ablösung und Entwicklung der eigenen Identität, finden sich viele Zwillinge aber schließlich wieder zusammen und besitzen meist ihr Leben lang eine enge Beziehung.