Leonardos Interesse am menschlichen Körper erschöpft sich nicht im Studium von Kneipengestalten oder Fingerübungen für Portraits. Bereits während der achtziger und neunziger Jahre des 15. Jahrhunderts waren ihm Modellstudien wichtig, um Personen anatomisch korrekt und entsprechend ausdrucksstark wiederzugeben. Doch mit Ende 50, als er auf Einladung der Franzosen erneut in Mailand weilt, geht er noch weiter. Er ist der erste Künstler, der Menschen seziert. Mit dem Blick des Malers und Bildhauers zerlegt er Knochen und Muskulatur, um sie detailgetreu und anatomisch korrekt wiederzugeben.
Studien am offenen Menschen
Trotz päpstlichen Verbots führt Leonardo im Jahr 1510 eigenhändig etwa 35 Sektionen an menschlichen Leichen durch. Sind für ihn anfangs nur die Architektur des Körpers und die mechanische Funktionsweise von Interesse, so ist er mit zunehmender Dauer seiner Studien auch von physiologischen und medizinischen Fragestellungen fasziniert.
Erschwert wird die Arbeit durch die begrenzte Anzahl gerade Verstorbener und durch den schnellen Zerfall. Doch Leonardo gelingt es, Leichen jeden Alters zu untersuchen, und so stößt er bald auf auffällige Unterschiede zwischen den Leichnamen. Im Mailänder Hospital Santa Maria Novella seziert er einen friedlich entschlafenen alten Mann und möchte die Todesursache herausfinden. Er entdeckt eine „pergamentartige, eingeschrumpfte und verunstaltete Arterie“ und liefert damit die erste Beschreibung der Arteriosklerose in der Geschichte der Medizin.
Leonardo wird mit der Zeit von einer wahren Leidenschaft für Gehirne, Herzen, Därme, Lungen und Muskeln erfasst. Er möchte die Beziehungen der einzelnen Organe zueinander verstehen. Um seinen Mitmenschen „den Ursprung ihrer Existenz“ zu offenbaren, plant er die Veröffentlichung eines Traktats „Über den Bau des menschlichen Körpers“.