8. April 1911. An der niederländischen Universität Leiden sitzen zwei Männer in einer abgedunkelten Kabine. Nur ihre Instrumente verraten ihnen, was in dem Kryostaten nebenan passiert. An dieser Super-Thermoskanne hantiert ein Endfünfziger mit markantem Walrossbart: Heike Kamerlingh Onnes ist berühmt, seit es ihm 1908 erstmals gelungen war, Helium zu verflüssigen. Damit erreichte er extrem tiefe Temperaturen von 4,2 Kelvin, also rund vier Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt bei minus 273,2 Grad Celsius. Für diese Leistung sollte Kamerlingh Onnes 1913 den Nobelpreis für Physik erhalten.
Jetzt steckt ein kleines Glasröhrchen im Kryostaten, gefüllt mit Quecksilber. An ihm wollen die Leidener erstmals beobachten, wie sich der elektrische Widerstand von Metallen bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt verhält. Bei 4,2 Kelvin, also minus 269 Grad Celsius, geschieht etwas Unerwartetes: Die Anzeige für den elektrischen Widerstand des Quecksilbers fällt schlagartig auf null. Dort verharrt sie. Zunächst glauben die Forscher an einen Fehler. Doch nachfolgende Experimente zeigen, dass sie ein neues Phänomen entdeckt haben. 1913 wird Kamerlingh Onnes dafür den Begriff Supraleitung prägen.
Firmenvertreter warten auf Supraleiter für den Alltag
Seit ihrer Entdeckung regen Supraleiter die Fantasie an. Schon Kamerlingh Onnes träumte vom völlig verlustfreien Stromtransport in Netzen. Für große Euphorie sorgte die Entdeckung der sogenannten Hochtemperatur-Supraleiter im Jahr 1986 am IBM-Forschungslabor bei Zürich. Dafür erhielten die beiden Entdecker Karl Alex Müller und Johann Georg Bednorz schon 1987 den Nobelpreis für Physik. Doch inzwischen ist wieder Ernüchterung eingekehrt, wie so oft in der Geschichte der Supraleiter.
Supraleitende Techniken sind zwar in der Grundlagenforschung unverzichtbar geworden. Im Alltag begegnet man ihnen aber nur im Kernspintomografen, denn die aufwendige Kühlung ist teuer. Die Lösung wäre Supraleitung bei Zimmertemperatur, aber solche Materialien blieben bislang ein Traum. Seit 1993 gelang es nicht mehr, den Temperaturrekord höher zu schieben. Mit minus 138 Grad Celsius (135 Kelvin) hält ihn ein keramischer Hochtemperatur-Supraleiter mit dem komplizierten Namen HgBa2Ca2Cu3O8 (Hg: Quecksilber, Ca: Calcium, Ba: Barium, Cu: Kupfer, O: Sauerstoff).
Bernhard Keimer erzählt von Firmenvertretern, die ihn kürzlich fragten, wann Supraleitung bei Raumtemperatur zu erwarten sei. „Zu ihrer Enttäuschung sagte ich ihnen, dass das völlig offen ist“, sagt er und schmunzelt. Der Direktor am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart und diesjährige Träger des renommierten Leibniz-Preises muss es wissen. Schließlich forscht er seit vielen Jahren an Hochtemperatur-Supraleitern. Er möchte im Detail verstehen, wie diese Materialien ihren Widerstand verlieren – um so die Basis zu schaffen, auf der sich alltagstaugliche Supraleiter entwickeln lassen.
Unkonventionelle Supraleiter
Das motiviert auch die Forschung von Frank Steglich, der Direktor am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden ist. Zu den Gemeinsamkeiten von Steglich und Keimer zählt nicht nur die Auszeichnung mit dem höchstdotierten deutschen Wissenschaftspreis: Beider Forschungsgebiete fallen unter den Überbegriff „unkonventionelle Supraleiter“. Steglichs Dresdener Team arbeitet allerdings an sogenannten Schwere-Fermionen-Systemen, die bei sehr tiefen Temperaturen supraleitend werden.
„Um verstehen zu können, was unkonventionelle Supraleitung meint, muss man zuvor die klassische, konventionelle Supraleitung erklären“, macht Steglich deutlich. Diese harte Nuss haben die drei Amerikaner John Bardeen, Leon Cooper und Robert Schrieffer erst 1957 geknackt. 1972 erhielten sie dafür den Physik-Nobelpreis. Die nach ihren Initialen benannte BCS-Theorie erschließt sich nur, wenn man in die Physik der Festkörper eintaucht.
Roland Wengenmayr / MaxPlanckForschung
Stand: 15.07.2011