Ein Spiegelbild mit tragischen Folgen

Contergan und seine (Neben-)wirkung

Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre wurden Tausende von Kindern auf der ganzen Welt mit Fehlbildungen der Organe und verkürzten Gliedmaßen geboren. Allein in Deutschland starben über 1.000 dieser Kinder an den angeborenen Missbildungen. Eltern waren verzweifelt, die Ärzte ratlos. Im November 1961 kam der Verdacht auf, das Schlafmittel „Contergan“ sei verantwortlich für die Fehlbildungen. Ein Medikament, das sämtliche Vortests mit Zellkulturen und Tierversuchen bestanden hatte, ohne eine Nebenwirkung zu zeigen. Was war schiefgelaufen?

Der fatale Irrtum hatte entstehen können, weil das Thalidomid, aus dem Contergan besteht, in zwei verschiedenen Formen auftritt. Wie bei Milchsäure gibt es eine rechts- und eine linksdrehende Komponente, es handelt sich um eine chirale Substanz. Die beiden Moleküle sind gleich aufgebaut, verhalten sich aber zueinander wie Bild und Spiegelbild. Solche Enantiomere haben zwar identische chemische und physikalische Eigenschaften, unterscheiden sich aber in ihrer biologischen Wirkung.

Bei vielen pharmazeutisch wirksamen Substanzen handelt es sich um solche chiralen Moleküle. Oft ist nur eines der beiden Enantiomere wirksam. Die andere Form beeinflusst im günstigeren Fall den Organismus gar nicht, im ungünstigeren Fall hat sie eine negative Wirkung. Beim Thalidomid trifft Letzteres zu: Die rechtsdrehende Form wirkt als gut verträgliches Schlafmittel, das kaum Nebenwirkungen aufweist, die linksdrehende Form dagegen wirkt fruchtschädigend und führt bei Einnahme während der Schwangerschaft zu den bekannten Fehlbildungen.

Die Entwickler des Contergans testeten jedoch nur die ungefährliche Komponente des Medikaments, bei der Synthese des Mittels bildete sich jedoch ein Racemat, ein Gemisch aus beiden Enantiomeren im Verhältnis 50:50. Das Wissen um chirale Moleküle war damals noch nicht so ausgebildet wie heute, trotzdem wollen viele nicht an einen tragischen Zufall glauben, den keiner hätte vorhersagen können. Der Leitung des Konzerns Grünenthal, der das Schlafmittel herstellte, wurde vorgeworfen, zu wenige Tests durchgeführt zu haben. Als Derivat des Schlafmittels Doriden gehört auch Thalidomid zur chemischen Gruppe der Barbiturate. Bei diesen Präparaten spielt Chiralität in der Regel eine bedeutende Rolle, oft müssen die Enantiomere voneinander getrennt werden, um eine optimale Wirkung zu erzielen. Die wissenschaftlichen Leiter von Grünenthal hätten also vorgewarnt sein sollen.

Dennoch wurde der Prozess 1970 eingestellt, die Firma Grünenthal zahlte freiwillig 114 Millionen Mark an die Opfer. Seitdem ist das Bewusstsein um die Gefährlichkeit von Medikamenten besonders während der Schwangerschaft stark gestiegen. In Deutschland wurde das Arzneimittelrecht wegen des Contergan-Falles verschärft.

Inzwischen wird die unschädliche Form des Contergans nicht mehr als Schlafmittel benutzt. Kurioserweise wird dagegen noch die andere, linksdrehende Form weiter produziert. Da es sich als Zellgift auf die Zellteilung auswirkt, ist das linksdrehende Enantiomer inzwischen zu einem Medikament gegen Lepraerkrankungen weiterentwickelt worden.

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Stand: 30.05.2000

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