Das wohl prominenteste Beispiel einer mittelalterlichen Gelehrten im deutschen Sprachraum ist Hildegard von Bingen. Sie war im 12. Jahrhundert Benediktinerin und Äbtissin ihres eigenen Klosters Rupertsberg bei Bingen. Zuvor hatte sie mit bereits 38 Jahren das dem Mönchskloster Disibodenberg angeschlossene Nonnenkloster geleitet. Ihr Name dient heute unter anderem zur Vermarktung verschiedener Heil- und Gesundheitsprodukte. Obwohl die Vermischung von religiösen Betrachtungen mit anderen Wissenschaften in ihrer Zeit nicht unüblich ist, gilt sie bei vielen als frühe Esoterikerin. Medizinischen Abhandlungen aus ihrer Feder werden allerdings bis heute in der Naturheilkunde eingesetzt und angewendet. Hildegard gilt zudem als eine Begründerin der Mystik und hat sich als Künstlerin, Ärztin, Ethikerin, Kosmologin und Poetin einen Namen gemacht.

Öffentliche Predigt auf dem Marktplatz
Ähnlich wie 800 Jahre vor ihr Hypatia, predigte auch Hildegard von Bingen öffentlich ihre Lehren, so geschehen etwa auf dem Marktplatz von Trier. Liturgische Handlungen waren Frauen jedoch auch zu ihrer Zeit nicht gestattet, dies war allein den männlichen Priestern vorbehalten. So konnten sie als Äbtissinnen zwar durchaus mächtig werden, allerdings nur, solange sie nicht mit Männern in Konkurrenz traten. Im Spätmittelalter wurde dann die frauenfeindliche Fraktion innerhalb der katholischen Kirche stärker und weibliches Predigen schließlich gänzlich verboten. Die verantwortlichen Kirchenväter begründeten dies mit dem Mannsein Jesu Christu als priesterlichem Vorbild.
Hildegard von Bingen lebte genau in der Zeit dieses Umbruchs. Die sich wandelnde Haltung der Kirche hielt sie jedoch nicht davon ab, weiterhin Einfluss zu nehmen. So unterhielt sie etwa einen regen Briefwechsel mit König Friedrich Barbarossa und beriet diesen in unterschiedlichen Angelegenheiten. Doch auch innerhalb des Klerus ließ sie sich nicht den Mund verbieten und kritisierte etwa die Verweltlichung der Institution in Bezug auf Reichtum.
Natur als Ausdruck des Geistes Gottes
Das zentrale Thema in Hildegards Schriften ist das Gleichgewicht. Ihr Gottes- und Schöpfungsverständnis zeigt, dass sie die Natur als Ausdruck des Geistes Gottes betrachtete. Hiermit ging ihrer Ansicht nach einher, dass der Mensch Natur und sich selbst gut und respektvoll zu behandeln habe. Der Gedanke der Einheit und Ganzheit ist auch ein Schlüssel zu Hildegards heilkundlichen Schriften. Diese sind davon geprägt, dass Heil und Heilung des kranken Menschen allein von der Hinwendung zum Glauben ausgehen können. Dabei sparte die Äbtissin und politisch engagierte Frau allerdings auch die Sexualität und Rolle der Frau in der damaligen Gesellschaft nicht aus.