So luxuriös und verschwenderisch die Titanic auch ausgestattet war, unter all dem Komfort verbarg sich eine Schwachstelle – und dies ausgerechnet dort, wo es am meisten zählte: bei den rund 2.000 massiven Stahlplatten und gut drei Millionen Nieten, die den Rumpf des Luxusdampfers zusammenhielten. Das enthüllte vor einigen Jahren die Untersuchung zweier US-amerikanischer Metallurgen. Tim Foecke und Jennifer Hooper McCarthy hatten 48 Nieten genauer untersucht, die bei einer Expedition zum Wrack der Titanic geborgen worden waren und ergänzende Tests und Modellrechnungen durchgeführt.
Schlackebrocken im Eisen
Dabei zeigte sich: Die Nieten, die die Stahlplatten am Rumpf der Titanic zusammenhielten, waren alles andere als erster Klasse. In zahlreichen Proben fanden die Forscher erhebliche Unreinheiten, das Metall war von kleinen Schlackenbrocken durchsetzt, der die Nieten brüchig machte. „Das Material, das die Werft damals kaufte, entsprach nicht der gängigen Nietenqualität“, erklärt Foecke.
Diese Schlussfolgerung bestätigte sich, als Hooper-McCarthy in den Archiven der Werft Harland und Wolff im irischen Belfast recherchierte: Die Aufzeichnungen enthüllten, dass die Werft während des Baus der Titanic und ihrer Schwesterschiffe Olympic und Britannic, akute Nachschubprobleme hatte. „Der Aufsichtsrat war im Krisenmodus. Bei jedem Treffen hieß es: ‚Es gibt Probleme mit den Nieten und wir müssen mehr Leute einstellen'“, schildert Hooper-McCarthy die damaligen Zustände. Es fehlte sowohl an Nieten als auch an erfahrenen Handwerkern, die diese in die Stahlplatten einsetzten. Die üblichen Zulieferer der Werft waren ausgelastet.
Um im Zeitplan zu bleiben, orderte Harland und Wolff daher zusätzliche Nieten von kleineren, weniger erfahrenen Schmieden und nahmen dabei Einbußen in der Qualität in Kauf. Als Rohstoff für die Nieten bestellte die Werft teilweise nur Eisen der Qualitätsstufe 3. Normalerweise setzten Schiffbauer damals für besonders beanspruchte Bauteile wie den Anker, Ketten oder Nieten jedoch das bessere Eisen der Qualität 4 ein, das sogenannte „best-best“-Eisen. Harland und Wolff setzte die Nieten minderer Qualität vor allem im vorderen und hinteren Fünftel des Schiffsrumpfs ein – und damit auch dort, wo der Eisberg auf die Titanic traf.
Risiko statt Innovation
Und auch beim Einsetzen der Nieten könnte gepfuscht worden sein, wie die Forscher vermuten. Denn das Einsetzen der Eisennietenmusste damals per Hand erfolgen. „Das jedoch erforderte großes Geschick“, erklärt Hooper-McCarthy. Die Nieter mussten das Eisen aufheizen bis es kirschrot glühte und dann die Niete mit der genau richtigen Kombination von Hammerschlägen in die Löcher treiben. War das Metall zu kalt, konnte das Handnieten zu Mikrorissen führen, die die Stabilität gefährdeten.
Es hätte eine Möglichkeit gegeben, dieses Risiko zu umgehen: Indem man Stahlnieten einsetzte. Diese waren widerstandsfähiger und ließen sich ohne Probleme mit Maschinen einstanzen. Die Reederei Cunard war bereits Jahre vor dem Bau der Titanic zu dieser damals noch neuen Technik übergegangen. Die White Star Line und ihre Reederei Harland und Wolff behielten jedoch für einen vermeintlich weniger anfälligen Teil ihrer Schiffsrümpfe die weicheren Eisennieten bei: für Bug und Heck.
Dass die Eisennieten am Rumpf der Titanic tatsächlich eine Schwachstelle gewesen sein könnten, zeigte sich in Belastungstests der Forscher, die sie unter anderem mit Nietenmaterial durchführten, das aus der Bauzeit der Titanic erhalten geblieben war. Dabei sprang ausgerechnet der Teil der Nieten ab, der für ihren Halt am entscheidendsten war: der Kopf. Als der Eisberg bei der Kollision den Rumpf der Titanic verformte, gaben diese Nieten einfach nach. Die eingedrückten Stahlplatten klafften dadurch entlang ihrer Nähte weit auseinander und die Wassermassen drangen ins Schiffsinnere ein.
Aber technische Mängel waren nicht das einzige Handicap des Ozeanriesen: Beim Untergang der Titanic waren auch höhere Mächte mit im Spiel…
Nadja Podbregar
Stand: 12.04.2012