Sogar im festen Zustand verhält sich Wasser ungewöhnlich. Bei Normaldruck entsteht beim Gefrieren die uns bekannte Form des Eises, die als „Eis Eins“ oder „Eis-Ih“ bezeichnet wird („h“ steht für die hexagonale Kristallstruktur). Auch hier ist wieder die tetraedrische Koordination von Wassermolekülen über Wasserstoffbrücken bestimmendes Strukturmotiv. Dabei entsteht das große Hohlräume aufweisende hexagonale Netzwerk aus Sechsringen mit geringer Dichte.
Eis-Ih ist nur in einem relativ kleinen Druck- und Temperaturbereich stabil. Bei hohen Drücken werden Eisphasen mit anderen Strukturen und anderen thermischen und mechanischen Eigenschaften gebildet. Dieser so genannte Polymorphismus – das Auftreten mehrerer fester Phasen unterschiedlicher Kristallstruktur – ist nichts Ungewöhnliches, man denke nur an die Kohlenstoffmodifikationen Diamant und Graphit. Jedoch ist bei Eis die Vielfalt mit mehr als zehn bisher experimentell nachgewiesenen Strukturen erstaunlich.
Bis vor wenigen Jahren waren nur Eisstrukturen bekannt, in denen intakte Wassermoleküle über die asymmetrische Anordnung des Protons in der Wasserstoffbrücke gebunden sind. Das entspricht den bekannten „Eisregeln“ von Linus Pauling, die die gemeinsamen Strukturmerkmale der Eisphasen zusammenfassen.
Seit langem wird vermutet, dass sich diese Asymmetrie unter sehr hohen Drücken verringert und im Grenzfall eine symmetrische Anordnung des Wasserstoffatoms zwischen den Sauerstoffatomen auftritt. Die Wassermoleküle zerfallen dabei in ihre Bestandteile und molekulares Eis verwandelt sich in einen elektrisch leitenden Festkörper, der nicht mehr den Eisregeln gehorcht.
Im Jahr 1999 berichteten drei Gruppen aus Frankreich, Japan und den USA tatsächlich über die Existenz einer solchen, als „Eis Zehn“ (Eis-X) bezeichneten Phase mit symmetrischen Wasserstoffbrücken, jedoch widersprechen sich diese mit verschiedenen experimentellen Methoden gewonnenen Aussagen.
Mit Simulationen des Eis-X, die Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum in internationaler Zusammenarbeit am Lehrstuhl für Theoretische Chemie durchführen, können sie im virtuellen Labor sichtbar machen, wie genau die Wassermoleküle bei Druckerhöhung zerfallen. Dazu nutzen die Forscher anstelle der klassischen Verfahren, die intakte Moleküle voraussetzen, Simulationen von Kernen und Elektronen auf Grundlage der Quantenmechanik. Mit den Ergebnissen, die eine eindeutige Strukturaussage zulassen, konnten die experimentellen Daten neu interpretiert und so alle drei Experimente in Einklang gebracht werden.
Stand: 07.01.2005