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Die Elektrostimulation kann auch heute noch lange nicht mit der natürlichen Nervenreizung mithalten. Nervenbahnen jagen ihre Mikrostromstöße hochpräzise in einzelne Muskelfaserbündel. Auf die Haut geklebte Elektroden von der Größe einer Haftnotiz bringen gleich mehrere Muskeln zum Zucken. Außerdem dosieren sie die Energie längst nicht so fein wie Nervenstränge. So werden gleichzeitig immer wieder dieselben Muskelfasern gereizt, und der Muskel ermüdet schnell.
Elektromotor unterstützt Patienten beim Treten
Thomas Schauer vom Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg will es besser machen. Er hat sich in den vergangenen Jahren dem perfekten biologischen Reizsystem allmählich angenähert. Zunächst entwickelten er und seine Kollegen gemeinsam mit dem Medizingeräte-Hersteller Hasomed eine Art Trainings-Ergometer, das sich seit etwa fünf Jahren auf dem Markt befindet. Querschnittgelähmte oder Schlaganfallpatienten mit gelähmtem Bein treten in die Pedale, während sie im Rollstuhl sitzen. In das Gerät wurde ein Elektromotor eingebaut, der die Patienten beim Treten unterstützt.
Noch weiter dreht Schauer die Elektrostimulation mit einem aktuellen Projekt. Daran beteiligen sich nicht nur der Medizingeräte-Hersteller, sondern auch Neurologen von der Berliner Charité-Klinik. Gemeinsam tüfteln sie an einer Art intelligentem Ergometer. In den Pedalen des Geräts stecken Kraftsensoren, die spüren, wie stark das Bein tritt. Damit kann die Software die Stromstärke und die Intensität der Reizimpulse an den Zustand der Muskeln anpassen.
Ergometer wird intelligenter
Die klassische Ergometer-Variante arbeitete noch ohne einen solchen Regelkreis. Je nach Pedalstellung schickte das herkömmliche Gerät Strompulse an Beinbeuger und -strecker. Die Muskulatur wird dabei stets gleichmäßig gereizt. Doch ein Muskel arbeitet nicht wie ein Elektromotor. „Je nach Verfassung des Patienten oder nach der Tageszeit arbeitet ein Muskel unterschiedlich stark“, sagt Schauer. Und außerdem ermüden die Muskeln während des Tretens. Dank des Regelkreises, der mit Messwerten aus den Kraftmesspedalen gefüttert wird, kann sich die Elektrostimulation jetzt darauf einstellen. Ermüdet der Muskel, stimuliert das Gerät ihn stärker.
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Zu dem neuen Ergometer gehören außerdem Elektroden, die nicht nur reizen, sondern zugleich die elektrische Erregung der Muskeln messen – das sogenannte Elektromyogramm (EMG), eine Art Muskel-EKG. Das EMG liefert dem Regelkreis zusätzliche Informationen über den Zustand der Muskeln. Das hilft vor allem Schlaganfallpatienten, die ihre Beine trainieren sollen und denen die Elektrostimulanz dabei nur eine Unterstützung bietet. Denn mit dem EMG kann das System exakt erkennen, wie fit der Muskel ist, wie gut er auf die Stimulation reagiert und wie stark er zur Tretbewegung beiträgt. So differenziert misst ein Kraftsensor nicht.
Forscher bauen Muskeltaktgeber
Noch etwas ist neu. Früher änderte man bei der Elektrostimulation nur die Stromstärke oder die Dauer eines Strompulses. Wer das natürliche Vorbild der neuronalen Erregung erreichen will, dem genügt das nicht. Denn wie ein Muskel arbeitet, hängt auch davon ab, wie schnell die Erregungspulse aufeinanderfolgen und mit welcher Frequenz die feinen Stromstöße abgefeuert werden. Doch das konnten die ersten Steuergeräte nicht kontrollieren. Thomas Schauer und seine Kollegen vom Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg mussten selbst schrauben und löten, um den ersten Muskel-Taktgeber zu bauen.
Ein wichtiges Training für das Herz-Kreislaufsystem
Im neuen Ergometer haben sie auch diese Technik verbaut. Querschnittgelähmte können damit sehr viel besser trainieren. Vor allem ermüden die Beine weniger schnell. Außerdem gibt es den Hilfsmotor. Der unterstützt vor allem Ungeübte beim Treten. Für andere gehört das Ergometer-Training zum täglichen Fitness-Programm, und je stärker der Muskel wird, desto weniger hilft der Motor. „Querschnittgelähmte können sich nur eingeschränkt bewegen. Die Arbeit am Ergometer ist deshalb für ihr Herz-Kreislauf-System und die Kondition besonders wichtig“, sagt Schauer.
Tim Schröder / MaxPlanckForschung
Stand: 29.07.2011