„…Ich fühlte, dass man mich in eine kleine, neben dem Kleidergemach befindliche Kammer schob. Meine Begleiter folgten, in gleicher Weise bugsiert, mir nach. Ich hörte, wie eine Tür mit festgefugtem Verschluss über uns zugemacht wurde, und tiefes Dunkel umgab uns. Nach einigen Minuten hörte ich ein lebhaftes Zischen und fühlte eine gewisse Kälte von den Füßen zur Brust aufsteigen. Offenbar hatte man vom Innern des Schiffs aus mit einem Hahn das äußere Wasser eingelassen, so dass es uns umgab und die ganze Kammer füllte. Darauf öffnete sich eine zweite Tür in der Seitenwand der Nautilus, ein Dämmerlicht umgab uns. Gleich darauf fühlten wir den Meeresgrund unter den Füßen.“
Was Jules Verne hier seinen Protagonisten Pierre Arronax beschreiben lässt, ist – für uns heute leicht erkennbar – das Prinzip einer Luftschleuse: einer Kammer, die das Aussteigen von Tauchern aus dem Unterseeboot erlaubt, ohne dass Wasser in das eigentliche Schiffsinnere eindringt. Für damalige Zeiten ist das Konzept zwar revolutionär, wie so vieles an Bord der Nautilus, unbekannt ist es aber nicht. Denn wenige Jahre vor Erscheinen von „20.000 Meilen unter dem Meer“ hat der deutsche Ingenieur Julius Kröhl bereits das weltweit erste U-Boot mit Ausstiegssystem entwickelt und vorgestellt.
Sensation im East River
1866, zur ersten Vorführung seiner „Explorer“ im Hafen von Brooklyn in New York City hat der ursprünglich aus Ostpreußen stammende Kröhl für möglichst viel Publikum gesorgt und Pressevertreter, Unternehmer und Marineoffziziere eingeladen. Sein zwölf Meter langes, gusseisernes Tauchboot ist durch eine Doppelhülle geschützt, deren Zwischenraum als Luftreserve dient und in dem sich auch die Ballasttanks befinden.
Für ihre spektakuläre Vorführung tauchen Kröhl und drei Mann Besatzung mit der Explorer bis auf den Grund des East River. Als sie nach 90 Minuten wieder auftauchen, öffnet Kröhl den Deckel der Einstiegsluke und präsentiert der staunenden Menge einen Eimer mit Schlick – heraufgeholt während des Tauchgangs über die druckluftbetriebene Ausstiegsschleuse am Schiffsboden. Das Publikum ist gebührend beeindruckt. Am nächsten Tag bejubelt die Zeitung „New York Times“ das „erste funktionierende Tauchschiff der Welt“ und erklärt Julius Kröhl zum „Vater der U-Boote“.
Doppelrumpf und Luftschleuse auch bei der Nautilus
Auch Jules Verne erfährt vermutlich über diesen und andere Presseberichte von der „technischen Sensation“. Sehr wahrscheinlich hat er sowohl den Doppelrumpf als auch die Luftschleuse seiner Nautilus dem Vorbild der Explorer nachempfunden. „Die Nautilus besteht aus zwei Rümpfen, einem inneren und einem äußeren, die durch eiserne Klammern in Form eines T miteinander verbunden ihr eine außerordentlich große Dauerhaftigkeit geben“, erklärt Kapitän Nemo seinem Gast Arronax.
Der geniale Erfinder Köhl jedoch erlebt den literarischen Ruhm „seiner“ Schleuse nicht mehr: Er stirbt 1867 zusammen mit der gesamten Besatzung der Explorer unter rätselhaften Umständen beim Perlentauchen in Panama. Möglicherweise sind sie mit die ersten Opfer der Taucherkrankheit, ausgelöst durch ständig zu schnelles Aufsteigen nach Tauchgängen in 30 und mehr Metern Tiefe. Kröhls U-Boot gerät nach seinem Tod in Vergessenheit, obwohl es bei Ebbe gut sichtbar auf dem Strand der unbewohnten Insel San Telmo vor der Küste Panamas liegt – gut 130 Jahre lang.
Entdeckung in Panama
Erst 2001 fährt der britische Wrack-Experte John Blashford-Snell zusammen mit einem Forscherteam nach Panama, um sich das Wrack der Explorer noch einmal genauer anzusehen. Das jahrelang für ein japanisches Mini-U-Boot aus dem zweiten Weltkrieg gehaltene Relikt entpuppt sich dabei schnell als sehr viel älter – und erinnert verblüffend stark an die Beschreibungen der Nautilus: „Es hatte einen Kommandoturm und ich hatte das Gefühl, als wenn Kapitän Nemo dort eigentlich an den Kontrollen sitzen sollte“, erklärt Blashford-Snell gegenüber der Zeitung „Times“.
„Wenn Jules Verne die relativ neue Welt der Unterseeboote recherchiert hat, muss er auch vom Schleusensystem der Explorer gehört haben“, erklärt der britische Marinehistoriker Wyn Davies. „U-Boot-Erfinder waren damals scharf darauf, ihre Produkte zu verkaufen, daher hätte es nichts von der heutigen Geheimniskrämerei gegeben und die Technologien wären beiderseits des Atlantik genau begutachtet worden. So weit ich weiß, hatte die Explorer das erste Schleusensystem und ihre Einzigartigkeit könnte sehr wohl Vernes Vorstellungskraft angeregt haben.“
Eine „Imagination“ wird wahr
Ob Luftschleuse, Tiefenruder oder Akkumulatorenantrieb – zahlreiche Merkmale der Nautilus waren den realen Entwicklungen der damaligen Zeit, aber auch späterer Unterseeboote bereits erstaunlich nahe. Vieles von dem, was Verne in seinem Buch „20.000 Meilen unter dem Meer“ schildert, ist heute längst Realität. Der bekannte Verne-Biograph Max Popp schrieb bereits 1908: „Gerade weil Jules Verne mit Tatsachen rechnete, weil er seine Schlüsse nur aus den wirklichen Fortschritten der Wissenschaft zog, mussten seine Prophezeiungen zum Teil schon jetzt eintreffen.“
Und auch Verne war der festen Überzeugung, dass er nichts grundlegend Unrealistisches beschrieb: „Während mein Buch, 20.000 Meilen unter dem Meer, ein Werk der Imagination ist, ist es meine Überzeugung, dass alles was ich in ihm beschreibe, wahr werden wird“, erklärt er 1902 in einem Interview – und in vieler Hinsicht behielt er damit Recht.
Nadja Podbregar
Stand: 08.10.2010