Es ist Anfang Mai, eine gute Zeit, um Afghanistan zu besuchen. Die Hitze, die das Land im Sommer in die Knie zwingt, ist noch nicht zu groß, die Wüste erstaunlich grün. Ochsengespanne ziehen über Felder, Bauern stehen bis zu den Knien in ihren mit Wasser überfluteten Reis-Äckern. Die Lehmmauern an Häusern und Höfen werden repariert und bekommen eine neue Lage Ziegel obenauf gesetzt.
In Kunduz beginnt der Tag kurz nach vier Uhr morgens mit dem Ruf des Muezzins zum ersten Gebet. Moped-Taxis und Goudis, die bunt geschmückten Pferdewagen, bevölkern schon in der Morgendämmerung die Straßen der Stadt. Der Basar erwacht, lange bevor die ersten auffällig weißen Geländewagen die Stadt durchqueren, mit denen Mitarbeiter der Internationalen Organisationen von ihren Gästehäusern zu den Büros von UNDP, WFP, UNHCR oder GTZ fahren. Ein unsicherer Friede hockt schüchtern an den staubigen Straßenrändern der Stadt. Immerhin – Frieden.
Das Deutsche Haus in Kunduz, in dem das Bundesministerium für Entwicklung und Zusammenarbeit BMZ, das Auswärtige Amt, GTZ, der Deutsche Entwicklungsdienst DED und auch die Bundeswehr eigene Büros haben, gleicht einer Insel inmitten des geschäftigen afghanischen Alltags. Allen Deutschen hier ist jedoch klar, Afghanistan ist eine Krisenregion und alles andere als stabil, sie bekommen es täglich zu spüren
An diesem Morgen erschüttert eine Meldung die Gemeinde der deutschen Entwicklungshelfer. Ein afghanischer Fahrer der Welthungerhilfe ist vergangene Nacht in seinem Lkw erschossen worden. Nur wenige Wochen, nachdem schon ein deutscher Mitarbeiter derselben Organisation ermordet worden war. Die Sicherheitslage im Norden Afghanistans, der im Gegensatz zum von den Taliban besetzten Süden bislang als ruhig galt, ist so angespannt wie in den letzten vier Jahren nicht.
Zukunft nicht planbar
„Unsere Pläne werden durch aktuelle Ereignisse immer wieder zunichte gemacht,“ sagt Eberhard Halbach, Chef des EON-Teams der GTZ in Afghanistan. „Kontinuierlich zu arbeiten, ist nur unter größter gemeinsamer Anstrengung möglich.“ Heute morgen fällt Halbach eine Entscheidung dennoch ganz allein. „Bis auf weiteres ist Aliabad für das GTZ-Team eine ‚No-Go-Area’.“
Aliabad, das ist der Ort, an dem sich der Überfall auf den Fahrer der Welthungerhilfe ereignet hat. Hier, nur etwa 30 Kilometer von Kunduz entfernt, unterhält die GTZ eines ihrer Projekte – eine Trinkwasserversorgung für die Distrikthauptstadt. Der gesamte Distrikt ist einer der Schwerpunkte der GTZ, hier betreibt sie ein integriertes Konzept für Regionalentwicklung. Aufeinander abgestimmt werden Infrastruktur, Ausbildungsmöglichkeiten, alternative Einkommensquellen für Frauen und die lokale Administration gefördert.
Auch in den nächsten Tagen laufen in den Computern im Deutschen Haus immer neue Sicherheitsmeldungen auf – die Lage bleibt angespannt. Die Meldungen kommen aus dem Camp der Bundeswehr, 20 Kilometer vor der Stadt. Hier betreiben die Deutschen eines ihrer beiden Provincial Reconstruction Teams, kurz PRT. Die PRTs in Kunduz und in Faisabad in der Provinz Badakhshan sind die Kommandozentralen für den ISAF-Einsatz der Bundeswehr, die in den drei Nordprovinzen die NATO-Truppen führt. Deshalb sind auch GTZ und DED vor Ort, die Kreditanstalt für Wiederaufbau KfW, die Deutsche Welthungerhilfe und kleinere Nichtregierungsorganisationen wie der Verein Kinderberg, der sich dem Aufbau von Krankenstationen auf dem Land widmet.
Problem Sicherheitslage
Wie die GTZ meiden auch die anderen deutschen Organisationen Aliabad in der nächsten Zeit, die Hilfe in der Region wird auf ein Mindestmaß zurückgedreht. „Wir haben alle Projekte gestoppt, bis der Anschlag aufgeklärt ist und uns seitens der Provinzregierung ein Konzept vorliegt, wie das Sicherheitsproblem gelöst werden soll,“ sagt Philipp Ackermann vom Auswärtigen Amt.
Der Diplomat stößt die Sätze energisch hervor, ihm ist anzusehen, dass ihn der Vorfall persönlich trifft. Ackermann ist der zivile Chef im PRT Kunduz. Denn, anders als die USA oder Großbritannien, setzt Deutschland in Afghanistan ganz klar auf eine zivil-militärische Kooperation. Beide PRTs werden jeweils von einer Doppelspitze aus einem Kommandeur der Bundeswehr und einem Diplomaten des Auswärtigen Amtes geführt. „Die Afghanen sollen wissen, dass wir hier im Land die einheitliche Position einer Bundesregierung vertreten,“ sagt Ackermann.
Zu dieser Position gehört seit dem Jahr 2004 auch eine engere Zusammenarbeit von Militär und staatlichen Entwicklungshelfern. Damals hatte die Bundesregierung ihren Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ vorgelegt und demonstrierte damit ein neues Verständnis der Stabilisierung von Krisenregionen wie Afghanistan. Zivile Krisenprävention, heißt es in dem Aktionsplan, solle sich künftig aus einem stärkeren Zusammenwirken von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik ergeben.
„Die Stabilisierung des Landes und der Wiederaufbau müssen parallel laufen, und nicht nacheinander,“ erläutert Ackermann. Konkret heißt das, Auswärtiges Amt, Bundeswehr und staatliche Entwicklungshilfe-Organisationen kooperieren – in einem stärkeren Maße als es alle Parteien je zuvor gewohnt waren.
Entwicklungshelfer als „Soft targets“?
Das sehen die professionellen Entwicklungshelfer mit gemischten Gefühlen, denn viele Afghanen verstünden das als direkte Hilfe. „Doch die Bundeswehr kann nur punktuell Hilfsakzente setzen,“ so Eberhard Halbach von der GTZ. „Die wichtige, längerfristige Unterstützung, kann die Bundeswehr nicht leisten. Das ist unsere Aufgabe.“ Dennoch habe man die anfänglichen Berührungsängste mittlerweile weitestgehend abgebaut.
Inwieweit dieses Konzept konkrete Auswirkungen auf die Sicherheitslage im von den Deutschen dominierten Norden hat, lässt sich kaum sagen. Philipp Ackermann ist überzeugt, dass die relative Stabilität im Norden ein Ergebnis der Kombination aus Präsenz der Bundeswehr und enormer Wiederaufbauarbeit ist, die die Deutschen hier gemeinsam mit den Afghanen leisten.
Stand: 25.07.2008