Ein kleiner Tisch wackelt leicht. Kurz darauf beginnen die Computer-Monitore, sich zu bewegen. Keiner der Angestellten im 17. Stock eines der Bürohäuser in Tokyo rührt sich. Erst als der Boden unter ihren Füßen zu schwanken beginnt, stehen einige auf, um aus dem Fenster zu sehen. Andere tippen weiter vor dem wackelnden Monitor oder telefonieren ungestört. Unter einen Schreibtisch oder Türrahmen rettet sich keiner. Ist ja nur ein Erdbeben.
Wie wohl kein anderes Land der Welt hat Japan gelernt, sich mit den Katastrophen zu arrangieren. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis, Taifune – die Natur hat dem Inselvolk nichts vorenthalten. Dieses Bewusstsein scheint die Japaner in ihrer kulturellen Entwicklung stets begleitet zu haben. In ihrer Lebenseinstellung spielt die Vergänglichkeit scheinbar eine entscheidende Rolle.
Alte Gebäude werden nicht unter Denkmalschutz gestellt und restauriert oder gepflegt, sondern abgerissen und durch neue ersetzt. Auch Heiligtümer wie Tempelanlagen werden nach einer gewissen Zeit abgerissen und exakt neu aufgebaut. Die verbreitete Holzbauweise ist nicht auf die Ewigkeit ausgelegt. Auch viele Manga (Comics) und Anime (Zeichentrickfilme) spiegeln diese Einstellung wieder. Nicht selten spielt die Handlung in einer absehbaren Zukunft nach einem atomaren Krieg (z. B. Akira) oder einem verheerenden Erdbeben (z. B. Bubblegum Crisis).
Jeder Einwohner Tokyos weiss im Grunde, dass die Stadt früher oder später von einem starken Erdbeben heimgesucht wird, ähnlich dem verheerenden Beben, das 1923 einen Großteil der Stadt zerstörte. Seit diesem Tag ist der erste September, der Tag des großen Erdbebens in Tokyo, ein Gedenktag, an dem Katastrophenübungen stattfinden. Wenn dann das große Beben kommt, weiss jeder Einwohner Tokyos zumindest theoretisch, was zu tun ist…
Stand: 22.06.2000