Die Beispiele aus Assur und Sippar zeigen, dass sich die neubabylonischen Könige bei ihren Bauprojekten gerne mal auf Traditionen und Vorgängerbauten beriefen, die es nicht gab. Ihre Bauinschriften und angeblich historischen Zeugnisse waren schlicht gefälscht.

„Von den Göttern gegründet“
Einer der Gründe für diese „Erfindung der Tradition“: Neugründungen von Heiligtümern in Assyrien lagen außerhalb der geltenden Normen. Sie wurden moralisch als falsch bewertet. Die ideologische Grundlage dafür bot vermutlich die in Mythen vermittelte Vorstellung, die Tempel seien in grauer Vorzeit von den Göttern gegründet worden und könnten ausschließlich an einem bereits ursprünglich vorgesehen Ort erneuert werden.
Ergab sich die Notwendigkeit einer Neugründung, so musste diese als Wiederherstellung eines alten, urzeitlichen Zustands dargestellt werden, um von den Zeitgenossen als legitim, also richtig wahrgenommen zu werden. Dies sind damit Beispiele für ein in vielen menschlichen Gesellschaften beobachtetes Phänomen, das die britischen Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger unter dem Begriff „Invention of Tradition“ fassen. Diese „Erfindung einer Tradition“ ist eine von vielen Strategien, um auf vergangenes Geschehen Bezug zu nehmen – es ist Teil der Erinnerungskultur.
König Nabonids Zahlenspiele
Kehren wir am Ende nach Babylonien und zu König Nabonid zurück. Bei den unter ihm veranlassten Neubauten babylonischer Tempel handelt es sich, soweit erkennbar, zwar um tatsächliche Renovierungen bereits existierender Heiligtümer. Falsche Angaben macht Nabonid jedoch über das Auffinden und die Datierung älterer Fundamente. Bei modernen Ausgrabungen konnte gezeigt werden, dass Nabonids Bauwerk nie auf den Fundamenten eines erheblich älteren Vorgängerbaus stand. Stattdessen wurde der Tempel über wesentlich jüngeren Bauresten errichtet.