Bei den Schildkröten haben sich im Laufe der Zeit nicht nur körperliche Anpassungen ausgebildet, sondern auch zahlreiche, teils bizarre, Verhaltensweisen entwickelt, durch die sie an ihre verschiedenen Lebensräume perfekt angepasst sind.
Überall angepasst
Bis auf die Polargebiete und die Hochgebirge besiedeln Schildkröten alle Kontinente und Ozeane, ob gemäßigte, tropische oder subtropische Klimazonen. Das Überleben verdanken die wechselwarmen Tiere dabei ihrer kaum anspruchsvollen Lebensweise: Schildkröten leben im Wasser und an Land. Vor allem die Landschildkröten sind dabei an verschiedene klimatische Bedingungen angepasst und können bei wechselnden Jahreszeiten in nördlichen Gefilden in eine Kältestarre oder einen Winterschlaf verfallen, wenn es im Herbst kalt wird.
Zudem können Schildkröten lange Zeit ohne Nahrung auskommen. Bei manchen Spezies haben sich zusätzlich besonders raffinierte Fangmethoden entwickelt. Zum Beispiel besitzt die im Wasser lebende Geierschildkröte (Macrochelys temminckii) einen kleinen roten Zungenfortsatz, den sie aus ihrem Mund streckt und leicht bewegt, wenn sich ein Fisch nähert. Dieser verwechselt den Zungenfortsatz leicht mit einer Beute wie Würmern und schwimmt darauf zu, sodass die Geierschildkröte schnell zuschnappen kann.
Ebenso hat auch die Fransenschildkröte (Chelus fimbriata) eine eigene Jagdtaktik: Mit grünen Algen bewachsen lebt sie gut getarnt am Meeresgrund und versteckt sich so vor ihrer Beute. Nähert sich etwa ein Fisch, reißt sie ihren riesigen, tief gespaltenen Rachen weit auf, sodass ein gewaltiger Sog entsteht, der die Beute zu ihr zieht.
Eine besonders verblüffende Jagd zeigt sich zudem bei einer auf den Seychellen lebenden Riesenschildkröte: Justin Gerlach von der University of Cambridge und seine Kollegin Anna Zora von der Frégate Island Foundation haben sie dabei gefilmt, wie sie einen jungen Vögel jagt und tötet – ein für Schildkröten nie zuvor dokumentiertes Verhalten. Das Reptil stapft gezielt mit aggressiv geöffnetem Maul zu dem Jungvogel, beißt zu und vertilgt das Küken anschließend.
Ausgeklügelte Fortpflanzungsstrategie
Auch in ihrer Fortpflanzung sind Schildkröten anpassungsfähig: Sind zum Beispiel die Witterungsbedingungen schlecht, kann sich der Schlupf der Nachkommen hinauszögern und so mehr Nachkommen das Überleben sichern. Zudem sind die Weibchen der gepanzerten Vierbeiner auch nicht ständig auf neue Paarungen angewiesen: Zur Paarungszeit werden die Weibchen zunächst gezielt von den Männchen umworben, teilweise aber auch mit Bissen und Rammstößen gegen den Panzer eingeschüchtert.
Dann folgt die Begattung, bei der die Männchen von hinten auf die Weibchen aufreiten und ihren Schwanz unter die Schale des Weibchens biegen. Auf diese Weise wurden nachweislich auch schon vor rund 50 Millionen Jahren Schildkrötenweibchen begattet, wie Fossilienfunde im Ölschiefer der Grube Messel zeigten. Nach der Begattung bleiben die weiblichen Schildkröten einiger Arten, wie die der Griechischen Landschildkröte (Testudo hermanni), befruchtungsfähig. Denn sie speichern den männlichen Samen und können so auch nach Jahren noch befruchtete Eier legen, ohne erneut kopulieren zu müssen.
Brut läuft selbstständig
Zusätzlich haben sich bei der Schildkröten-Brut vorteilhafte Verhaltensweisen entwickelt: Nicht nur Landschildkröten, sondern auch Meeresschildkröten legen ihre Eier immer an Land ab. Bei Letzteren legt das Weibchen dafür häufig lange Wanderungen zurück, um zu einer geeigneten Eiablagestelle zu gelangen. Wurde einmal ein Ort mit passender Sonnenlage sowie Bodenbeschaffenheit gefunden, der auch sicher vor Überschwemmungen ist, merken sich die Tiere diese Stelle und können dank ihres guten Orientierungssinns über viele Jahre diesen Standort zur Brut aufsuchen.
Das Ausbrüten der bis zu 200 Eier überlassen die Schildkröten der Sonne, die auch über das Geschlecht der Tiere entscheidet: Je mehr Sonne die Eier abbekommen, desto eher schlüpfen aus ihnen Weibchen. Denn Wissenschaftler haben herausgefunden, dass bei niedrigeren Temperaturen überwiegende Mengen an Testosteron für die Entwicklung von Männchen sorgen. Bei rund 32 Grad Celsius wird hingegen das Enzym Aromatase aktiviert, das Testosteron in das weibliche Geschlechtshormon Estradiol umwandelt. Die Folge: Es entstehen Weibchen.
Unsoziales Verhalten zum Eigenschutz
Die Muttertiere können nach dem Vergraben wieder in ihr sichereres, gewohntes Umfeld zurückkehren. Haben sich die Jungtiere vollständig entwickelt, sind geschlüpft und haben den Dottersack aufgebraucht, wagen es häufig alle Jungtiere gemeinsam, ihre Brutstätte zu verlassen. Dadurch wird die Chance, von Fressfeinden erwischt zu werden, minimiert. Dabei hasten sie kollektiv nur nachts ins Meer und orientieren sich am Mondlicht, um den schnellsten Weg dorthin zu finden.
Doch trotz der gemeinsamen Reise ins Wasser lauern sowohl an Land als auch im Meer viele Gefahren auf die kleinen Schildkröten – von Raubmöwen bis hin zu Raubfischen. Nur wenige kommen durch. Wie rentiert sich da das unsoziale Verhalten der Eltern? Statt persönlicher Betreuung setzen Schildkröten auf ihren eigenen Schutz – und auf Masse. Um die Verluste an Nachwuchs auszugleichen, legen sie bis zu 3.000 Eier in ihrem Leben. So garantieren die gepanzerten Vierbeiner, dass wenigstens ein paar Nachkommen die Geschlechtsreife erlangen und selbst zur Arterhaltung beitragen.