Acht Wochen lang durchwühlte das Team um den Paläontologen Ottmar Kullmer im Jahr 1992 den Sand nahe dem Dorf Karonga am Malawisee, um an der Fundstelle des Homininen-Unterkiefers nach dem fehlenden Backenzahn zu suchen. Das Ganze dauerte die ganze Grabungssaison.
Ein Kiefer des Homo rudolfensis
Im letzten Sack schließlich fand sich tatsächlich das fehlende Zahnstück des Unterkiefers. Es bestätigte: Der Unterkiefer gehörte einst einem unserer Vorfahren der Gattung „Homo“ -wahrscheinlich dem Homo rudolfensis. Das gut erhaltene Fossil mit der Bezeichnung UR 501 war unter anderem ein wichtiger Beleg dafür, dass es vor 2,5 Millionen Jahren neben dem Australopithecus in Ostafrika bereits erste Vertreter der Gattung Homo gab – und dass diese Frühmenschen nicht nur in Kenia, sondern auch anderswo in dem von Schrenk und Bromage postulierten Homininen-Korridor vorkamen.
Bis zum Jahr 2015 galt der in Malawi entdeckte Kiefer des Homo rudolfensis sogar als ältestes bekanntes Relikt der Gattung Homo insgesamt. Dann stieß ein Forschungsteam in der Afarsenke in Äthiopien auf einen mit 2,8 Millionen Jahren noch älteren Unterkiefer, der ebenfalls schon Merkmale der Gattung Homo trug. Seither gilt UR 501 als das zweitälteste unserer menschlichen Gattung zugeordnete Fundstück.
Geologische Gutachten hat Kullmer seit seinem entscheidenden Fund jedenfalls nicht mehr geschrieben, er promovierte über die Entwicklungsgeschichte urzeitlicher Busch- und Riesenschweine (Suiden), die eine verhältnismäßig rasche Evolution durchgemacht hatten. Daher sind sie als Leitfossilien wichtig, denn sie erlauben es, seltene Fossilien wie zum Beispiel den Unterkiefer des Homo rudolfensis ziemlich genau zu datieren auf 2,5 Millionen Jahre.
Paläobiomics – das ganze Bild zählt
Aber lohnt es sich wirklich, so viele Jahre nach Hominidenfossilien zu suchen, wenn am Ende nur so wenige Fundstücke herauskommen? Wenn es mehr Hominidenforscher gibt als Hominidenfunde, wie Schrenk einmal im Magazin „Spiegel“ spottete? „Einen Moment, langsam“, bremst Schrenk. „Wir sind ja nicht nur auf der Jagd nach diesen Menschenresten, unser Ziel war es immer, die komplette Umwelt zu verstehen, die Ökologie, das Nahrungsangebot, den Stoffaustausch, alle Organismen eines Lebensraums.“
Paläobiomics nennen die beiden Wissenschaftler diesen Ansatz, die gesamtheitliche Analyse eines Systems vor Millionen von Jahren. Die vielen Fossilien haben beim Zeichnen dieses Gesamtbildes geholfen, und neue Methoden erlauben heute zum Beispiel die Analyse der Feinstruktur fossiler Zähne und Knochen.
Kullmer erläutert: „Der Zahnschmelz wächst in Kristalliten, in Prismenstrukturen mit täglichen Anwachslinien, zwei bis vier Jahre lang. Wenn man die Zusammensetzung der chemischen Elemente untersucht, kann man Zyklen beobachten, vielleicht Regenzeiten, in denen sich das Nahrungsangebot ändert. Auch wenn Kinder abgestillt werden, spiegelt sich das in den Zähnen wider.“