Warum verhielt sich das Koala-Retrovirus wie ein akut infektiöser Erreger, obwohl es längst im Koalagenom verankert war? Um die Ursache für dieses scheinbar paradoxe Verhalten herauszufinden, beschlossen die Forscher um Rachel Tarlington und Jon Hanger von der Universität von Queensland zu klären, wann die Endogenisierung des KoERV stattgefunden hatte.
Als sie die Populationen der australischen Koalas nun systematisch nach den Virengenen durchmusterten, erlebten die Forscher gleich zwei Überraschungen: Zum einen unterschieden sich Anzahl und Einfügungsorte der retroviralen Sequenzen extrem stark zwischen den einzelnen Koalas. „Die Viruskopienzahl geht von Tier zu Tier massiv auseinander – fast als würde das Virus das Genom gerade auskundschaften“, erklärt Tarlington. „Das deutet auf einen sehr aktiven Vorgang hin, auf einen sehr dynamischen evolutionären Wandel.“
Infektion erst seit 100 Jahren
Völlig perplex aber waren die Wissenschaftler, als sie feststellten, dass die Koalas in Queensland zwar relativ gleichmäßig durchseucht waren, die Infektionsrate aber Richtung Südwesten immer weiter abnahm. Auf der Insel Kangaroo Island schließlich fanden sich bei keinem der untersuchten Tiere Spuren von Blutkrebs und auch die Sequenzen des Koala-Retrovirus suchten die Forscher in ihrem Genom vergebens. Des Rätsels Lösung brachte ein Blick in die Geschichte: „Die Koalas kamen irgendwann in den 1920er Jahren nach Kangaroo-Island, aber sie stammten von einer anderen Insel, auf der sie bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts isoliert waren“, so Tarlington.
Für Tarlington und ihre Kollegen lag daher der Schluss nahe, dass das Koala-Retrovirus ziemlich neu ist und die Koalas erst seit rund 100 Jahren infiziert. Auch für den Ursprung des Virus gibt es bereits erste Indizien: Tarlingtons Kollege Greg Simmonds entdeckte, dass einige Nagetiere in Südostasien ein sehr ähnliches Virus haben. Möglicherweise wurden infizierte Tiere eingeschleppt und gaben den Erreger dann an die Koalas weiter.
Evolution durch Versuch und Irrtum
Was aber bedeutet dies nun für die betroffenen Koalas? „Gegenwärtig löscht das Koala-Retrovirus jene Angehörigen der Wirtsart aus, die nicht mit ihm leben können. Zu seiner präadaptierten Strategie gehören die jüngst beobachtete Invasion und die vielfache Insertion in die Koala-Keimbahn“, erklärt Ryan. Der Erreger befindet sich damit quasi noch in einer Art Experimentierstadium von Versuch und Irrtum. In diesem Prozess der Selektion überleben dann letztlich die Kombinationen aus endogenem Retrovirus und Koala, bei denen Erreger und Wirt in einer für beide günstigen Form miteinander verschmolzen sind:
„Für mich verdichteten sich die Hinweise, dass wir die verschiedenen Stufen einer aggressiven Symbiose gerade in Echtzeit miterleben durften“, so Ryan. „Den Übergang vom Wüten eines exogenen Virus in den ersten Individuen eines neuen Wirts über die Ausmerzung großer Teile der Wirtspopulation hin zu einer Partnerschaft auf dem Niveau einer innigen Symbiogenese, gefolgt von einer vollständigen Genomverschmelzung. Bald werden die glücklichen Überlebenden – im Unterschied zu jenen Tieren, die geografisch von diesen Populationen isoliert sind – eine neue, holobiontische Einheit aus Koala und Virus darstellen.“ Holobiontisch heißt in diesem Falle, dass beispielsweise die Selektion und andere evolutionäre Einflüsse zukünftig nicht mehr an beiden Partnern getrennt ansetzen, sondern nur noch am gemeinsamen Ganzen.
Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010