Erste Hinweise auf mögliche „Schwulen-Gene“ entdeckte der US-Genetiker Dean Hamer bereits 1993. Er hatte die DNA von 38 schwulen Brüderpaaren nach Genabschnitten durchsucht, die beide Männer gemeinsam hatten und die bei ihnen häufiger auftraten als bei ihren heterosexuellen Geschwistern. Dabei stieß er auf eine auffällige Genregion an der Spitze des X-Chromosoms: Xq28. Rund 67 Prozent der schwulen Brüder trugen in dieser Region übereinstimmende Genvarianten, bei ihren heterosexuellen Geschwistern waren es nur 22 Prozent.
Seither haben weitere, umfangreichere Studien Hamers Fund bestätigt, darunter auch eine von Michael Bailey. Er und sein Team fanden im Jahr 2014 ebenfalls Übereinstimmungen bei Xq28, sowie in einem DNA-Abschnitt auf dem achten Chromosom. „Es ist zwar ermutigend, dass die bisher größte Studie dieser Art diese Funde repliziert hat, aber der Fall ist noch lange nicht abgeschlossen“, sag Bailey. Denn längst nicht alle späteren Fahndungen im Erbgut konnten diese Ergebnisse reproduzieren.
Und noch zwei Kandidaten
Hinzu kommt: Xq28 und 8q12 sind nicht die einzigen heißen Kandidaten. Im Jahr 2016 entdeckten Forscher um Alan Sanders von der University of Chicago zwei weitere auffällige Genorte – und konnten sie sogar bis auf zwei Gene eingrenzen. Sie hatten die DNA-Proben von 1.077 homosexuellen und 1.231 heterosexuellen Männern einer genomweiten Assoziationsstudie (GWAS) unterzogen. Dabei verglichen sie das Erbgut bis auf die Ebene einzelner Genbuchstaben – der sogenannten Single Nucleotid Polymorphisms (SNP).
Das Ergebnis: Sowohl auf Chromosom 13 als auch auf Chromosom 14 liegen Gene die sich zwischen schwulen und heterosexuellen Männern unterscheiden. Eines dieser Gene, SLITRK6, ist unter anderem im Hypothalamus aktiv, einer Hirnregion, die für Gefühle und Verhalten wichtig ist und in der es Strukturen gibt, die sich bei Menschen verschiedener sexueller Orientierung unterscheiden. Das zweite Gen, TSHR, enthält den Bauplan für eine Andockstelle der Schilddrüsenhormone.
Komplex und multifaktoriell
Zusammenfassend scheint damit klar, dass die sexuelle Orientierung zwar durchaus eine genetische Komponente hat. Diese ist aber weitaus komplexer als zunächst angenommen – und nicht einmal ansatzweise aufgeklärt. „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass es eindeutige Schwulen- oder Lesbengene gibt“, meint Tuck Ngun von der University of California in Los Angeles. „Stattdessen vermuten wir, dass ein ganzes Netzwerk von Genen hinter der sexuellen Anziehung steckt – und das dieses Netzwerk uns dazu veranlagt, eher Männer, Frauen oder aber beide sexuell attraktiv zu finden.“
Um die Verwirrung komplett zu machen, könnten neben der DNA auch epigenetische Faktoren eine Rolle spielen – Anlagerungen an der DNA, die das Ablesen der Gene blockieren können. Das Muster dieser Anlagerungen kann vererbt werden, sich aber auch durch Einflüsse im Mutterleib und während des Lebens verändern. Im Jahr 2015 haben Ngun und sein Team bereits erste Hinweise darauf gefunden, dass sich auch das Epigenom von homosexuellen und heterosexuellen Menschen in einigen Punkten unterscheidet. Doch auch hier stehen die Forscher gerade erst am Anfang.
Nadja Podbregar
Stand: 29.06.2018