In den vergangenen Jahren ist am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nimwegen eine gigantische virtuelle Forschungsbibliothek mit Video- und Audiodateien, Wörterbüchern, Grammatiken sowie Spezialabhandlungen über bedrohte Sprachen und Kulturen entstanden. Dafür haben die IT-Spezialisten des Archivs auch eine besondere Software entwickelt, mit der die Sprachwissenschaftler zum Beispiel ihre Videoclips mit Untertiteln, Kommentaren und Übersetzungen versehen können. „Das ist echte Pionierarbeit“, lautet das Urteil von Nikolaus Himmelmann, „und ein unglaublicher Schub für die Sprachdokumentation in technologischer Hinsicht.“
Mit dem Language Archive können die Linguisten nun auch Fragen angehen, die zu beantworten bislang undenkbar gewesen wäre. Im Rahmen des Projekts „Demonstratives with Exophoric Reference“ beschäftigen sie sich etwa mit dem Zusammenspiel von gesprochenen Demonstrativpronomen – im Deutschen wären das „dieser“ oder „jener“ – und Gesten: wenn zum Beispiel jemand über das Wetter spricht und mit dem Finger in den Himmel deutet. Dazu werten die Forscher Videos von drei dokumentierten Sprachen im Pazifikraum aus. „Damit wollen wir auch übergeordnete Fragen beantworten“, so Nikolaus Himmelmann. „Welche Gesten sind kulturspezifisch, und welche benutzen alle Menschen über die Grenzen ihrer Kultur hinweg?“
Videos erleichtern Sprachforschung
In den Augen von Ulrike Mosel hat das Spracharchiv in Nimwegen auf lange Sicht das Potenzial, die Linguistik zu verändern – genauer gesagt ein genuines Handikap des Fachs und der Geisteswissenschaften insgesamt abzuschütteln: „In traditionellen Grammatiken stehen oft Beispielsätze mit Übersetzungen. Man erfährt aber nicht, welcher Muttersprachler wann und wo das gesagt hat – jetzt lässt sich das im Archiv am gesprochenen Wort nachprüfen.“ So können Forscherkollegen ohne größeren Aufwand die Ergebnisse nachvollziehen – anhand der Originaldaten, die außerdem authentische Gesprächssituationen wiedergeben.
Früher war es nicht unüblich, zusammen mit einem „Informanten“ Beispielsätze zu sammeln und übersetzen zu lassen. „Solche Dokumentationen sind jedoch sehr riskant, weil Menschen dazu neigen, dann das zu sagen, was man hören will.“ Aus diesem Grund drücken Ulrike Mosel und viele ihrer Kollegen oft den Sprechern selbst eine Kamera in die Hand, damit diese Verwandte oder Freunde interviewen. Beide Seiten arbeiten aber auch sonst eng zusammen: In vielen Projekten gehören die Sprecher zum Forschungsteam. Sie reagieren in aller Regel überaus positiv und mit überwältigender Herzlichkeit, „auch weil es sehr selten passiert, dass Fremde ihrer Sprache und Kultur Wertschätzung entgegenbringen“, sagt Eva Schultze-Berndt in Manchester.
Karin Schlott / VolkswagenStiftung, Broschüre Bedrohte Sprachen
Stand: 24.05.2013