Was seine Zukunft bringen soll, weiß Amerigo Vespucci gegen Ende des 15. Jahrhunderts ziemlich genau. Doch er weiß auch, dass er etwas dafür tun muss, um dieses Ziel wirklich zu erreichen. Denn von der Seefahrt hat er kaum Ahnung und auch sonst fehlt ihm das Handwerkszeug für einen erfolgreichen Entdecker fast vollständig. Und als Handlanger oder Küchenjunge auf große Fahrt zu gehen, ist nicht das, wovon er im Alter von fast schon 50 Jahren träumt.
Von der Vision zur Wirklichkeit
Vespucci beginnt deshalb mit großem Engagement die neuesten Erkenntnisse aus der Geographie und anderen verwandten Wissenschaften wie Astronomie zu studieren. Schnell wird er auch fit in der Steuermannskunst und traut sich zu, als Navigator an Bord eines Schiffes die Welt zu erkunden.
Und die Gelegenheit dazu ergibt sich viel schneller als Vespucci erhofft hat. Denn am 18. Mai 1499 bricht eine aus drei oder vier Schiffen bestehende kleine spanische Flotte unter der Leitung von Alonso de Ojeda und Juan de la Cosa in die neuen Überseegebiete auf. Beide sind ehemalige Gefolgsmänner von Christoph Kolumbus und mit seinen Reiserouten bestens vertraut. Die Überfahrt gelingt daher weitgehend problemlos und schon nach 37 Tagen kommt jenseits des Atlantiks Land in Sicht. Auf ihrer Fahrt entlang der Nordostküste Südamerikas besuchen die Abenteurer unter anderem die Insel Trinidad, Guyana sowie die Orinoco-Mündung. Sie bekommen aber immer wieder auch für sie exotische Menschen zu Gesicht.
Nackt und barbarisch?
Vespucci ist von ihnen so fasziniert, dass er sie in seinen späteren Reiseberichten ebenso detailliert wie lebendig beschreibt: „Was wir über ihren Lebensstil und ihre Bräuche gelernt haben ist, das sie völlig nackt umherlaufen, sowohl die Männer als auch die Frauen… Sie sind von mittelgroßer Statur und sehr wohl proportioniert. Ihre Körperfarbe erinnert an das Rot der Löwenmähnen.“ Die Ureinwohner der besuchten Gebiete wirken auf ihn aber auch unzivilisiert und rückständig. „Ihre Lebensweise ist sehr barbarisch. So essen sie nicht zu bestimmten Zeiten, sondern immer wenn sie wollen. [..] Und sie essen auf dem Boden, ohne ein Tischtuch oder einen anderen Schutz darunter.“
Beeindruckt zeigt sich Vespucci sich dagegen von den selbst gefertigten Bögen und Pfeilen der Indios. Letztere sind nicht wie sonst üblich mit Metallspitzen bestückt, sondern mit Fischzähnen oder über dem Feuer gehärteten Holzzacken. Für großes Erstaunen bei Vespucci und seinen Mitreisenden sorgen auch die Dörfer der Ureinwohner, die sie im Laufe der nächsten Wochen oder Monate immer wieder besuchen. So stoßen sie beispielsweise auf eine Siedlung aus nur 13 Gebäuden, in denen aber insgesamt 4.000 Menschen leben. Mindestens ebenso kurios ist für die Europäer, dass von ihnen begehrte Schätze wie Gold oder Juwelen für die fremden Völker kaum eine Bedeutung haben.
Klein-Venedig in Südamerika
Nach einiger Zeit erreichen die Seefahrer schließlich einen Ort, der ihnen besonders imponiert – vor allem, weil er Vespucci an seine italienische Heimat erinnert. Er erklärt das Besondere an der Siedlung später in seinen Reiseerinnerungen so: „Wir landeten in einem natürlichen Hafen, wo wir ein Dorf fanden, dass wie Venedig auf dem Wasser gebaut ist: Es gab 44 große Behausungen in Hüttenform, die auf dicken Pfählen errichtet worden waren. Deren Türen oder Eingänge erinnerten an Zugbrücken. Von jedem Haus aus konnte man alle anderen erreichen, indem man diese Zugbrücken benutzte, die alle mit einander verbanden.“ Vespucci und Co nennen diesen Ort „Klein-Venedig“ – was im spanischen so viel bedeutet wie „Venezuela“.
Alles in allem kommt es Vespucci so vor, als wenn er eine Art Garten Eden, das lange gesuchte Paradies auf Erden gefunden hat. Die erfolgreichen Entdecker nehmen von ihrer Expedition Gold, Perlen und Smaragde mit – und sie fangen Sklaven, die sie später im Juli 1500 nach ihrer Rückkehr in Europa gewinnbringend verkaufen.
Dieter Lohmann
Stand: 09.06.2011