Heute scheint klar, dass die endogenen Retroviren in unserem Genom keineswegs passive Mitläufer sind, sondern durchaus aktiv an unserer Entwicklung und unseren Lebensvorgängen teilnehmen. „Es wird viele überraschen, dass die meisten dieser HERVs tatsächlich transkribiert werden und einige auch als Proteine und manchmal als Virionenpartikel in spezifischen Geweben exprimiert werden“, erklärt der Virologe Luis Villarreal.
Unentbehrlich…
Spuren der Aktivität von ERV3 beispielsweise finden sich nicht nur in Plazenta, Eierstöcken und Nebennieren, sondern auch in Talgdrüsen und dem braunen Fettgewebe. Die beiden von retroviralen Genen erzeugten Proteine Syncytin-2 und -2 werden dagegen offenbar in erstaunlich großer Menge auch im Gehirn hergestellt: „Die Aktivität ist höher als bei jeder anderen HERV-Genexpression, die man bisher untersucht hat“, erklärt „Virolution“-Autor Frank Ryan. „Niemand weiß was die Produkte dieser Virengene in unserem Gehirn tun und ob sie sich irgendwie von den Syncytinen in der Plazenta unterscheiden, aber womöglich spielen sie eine wichtige anatomische oder physiologische Rolle – oder beides.“
Neben den endogenen Retroviren selbst können auch die retroviralen LTRs in unserem Erbgut wichtige Hilfestellung leisten, indem sie beispielsweise die Aktivität anderer, für uns entscheidender Gene regulieren helfen. Beispiele dafür sind das Keratin-Gen, Gene des Immunsystems, das Gen für das Stärke-Enzym Amylase sowie Gene für das Fettstoffwechselhormon Leptin und den zugehörenden Leptinrezeptor. Insgesamt sind derzeit ungefähr 20 menschliche Gene bekannt, deren Expression von retroviralen Kontrollsequenzen reguliert wird.
…und gefährlich
Allerdings sind die Retroviren in uns keineswegs immer nur gutmütige Helfer, sie besitzen durchaus das Potenzial zur Zerstörung. Auf den ersten Blick klar ist dies für einige Relikte der endogenen Viren, darunter vor allem die LTRs und einige SINEs, die so genannten Alu-Sequenzen. Denn sie sind hochgradig mobil, können relativ leicht ausgeschnitten, wieder eingefügt oder rekombiniert werden. Landen sie dabei mitten in einem wichtigen Gen oder schneiden aus Versehen Teile eines solchen Gens aus, ist ein Schaden vorprogrammiert.