Bildung schon für Vierjährige? Einverstanden. Lernen mit Kopf, Herz und Hand statt Universitäten für Säuglinge und Einmaleins- und Vokabelnpauken im Kindergarten? Okay. Bessere individuelle Förderung der Kinder und besonders für Lernschwache? Aber sicher. Bildungsforscher und Neurowissenschaftler vertreten in vielen Punkten, die die frühkindliche Bildung und die Grundschule betreffen, nahezu identische Meinungen. Dennoch ist zwischen diesen Berufsgruppen ein heftiger Streit darum entbrannt, wie das Lernen dort konkret aussehen kann.
{1l}
Bildungsforscher wie Professorin Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin wehren sich vehement gegen plakative Patenrezepte und Verallgemeinerungen von Gehirnforschern wie „Lernen muss immer Spaß machen“ oder „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“. Sie fordern stattdessen moderneren Unterricht, den Erwerb von verwertbarem Wissen, einen Verzicht auf schnelle Abstraktionen und allgemein ein besseres Handwerkszeug für Erzieher und Lehrer.
„Lehrer sollen gern lernen, wie verschiedene Teile des Gehirns am Unterricht beteiligt sind. Aber Lehrer benötigen vor allem Wissen, das ihnen hilft, endlich besseren Unterricht zu machen“, sagt Stern beispielsweise in einem Interview mit der Zeit am 01.07.2004.
Die Gehirnforscher dagegen fühlen sich mit ihren Ergebnissen nicht genügend ernst genommen und fordern vehement das Einfließen ihrer Resultate über Lernen, Gedächtnis und körpereigene „Glückshormone“ in das Bildungssystem. Sie schrecken aber, wie Professor Manfred Spitzer in seinem Buch „Lernen“ aus dem Jahr 2002, auch nicht davor zurück, eine Abschaffung des Religionsunterrichts in den Schulen anzuregen. Grund: Die Bereiche im menschlichen Gehirn, die für Diskussionen über Ethik und Moral dringend gebraucht werden, sind frühestens in der Oberstufe ausreichend weit entwickelt.
Große Koalition auch in der Bildung?
Doch abseits aller Ressentiments, könnte eine große Koalition aus Lehrern, Bildungswissenschaftlern und Gehirnforschern vielleicht doch neue, bessere Vorschläge für das das Lernen in Kindergarten und Schule entwickeln. Erste Anzeichen für eine Annäherung sind jedenfalls vorhanden.
„Es besteht aber durchaus die Hoffnung, dass in Ergänzung zu den etablierten verhaltenswissenschaftlichen Methoden der Lernforschung ein Blick in das Gehirn zu erklären hilft, warum manche Inhaltsgebiete so schwer zu verstehen sind und welche didaktischen Methoden das Lernen erleichtern.“, schreibt Stern in einem Beitrag zum Kongress „Neuro2004: Hirnforschung für die Zukunft“ in Düsseldorf.
Und auch Professor Henning Scheich vom Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg gibt sich in der ZEIT vom 18.09.2003 eher versöhnlich: „Weder wittert die Neurowissenschaft opportunistisch Morgenluft angesichts des Pisa-Debakels, noch ist sie die neue Heilslehre, die die Quantentheorie der Bildung verkündet.“ Aber sie könne entscheiden, „welche der psychologischen, pädagogischen und soziologischen Konzepte des Lernens für ein normal funktionierenden Gehirn sinnvoll sind und welche nicht.“
Klar ist aber: eine Frühförderung kann aus Sicht fast aller Forscher das spätere Lernen in der Schule zwar sinnvoll vorbereiten und ergänzen, ein besseres Ergebnis in zukünftigen Vergleichstests wie PISA garantiert sie allein wohl kaum. Sie könnte aber möglicherweise ein wichtiger Mosaikstein auf dem Weg sein, das deutsche Bildungssystem moderner und leistungsfähiger zu machen. Erste Ansätze, die Erkenntnisse aus der Hirn- und Bildungsforschung in die Schulen und Kindergärten zu tragen, gibt es bereits…
Stand: 11.08.2006