Einige der bekanntesten Reaktorunfälle sind hier kurz beschrieben. Die Stärke des Unfalls ist als INES-Wert (International Nuclear Event Scale)angegeben. Dieser Skala liegt ein logarithmischer Maßstab zugrunde. Ein Unfall der Stufe 6 ist bereits zehn Mal so schwerwiegend wie einer der Stufe 5. Großflächige Auswirkungen auch außerhalb der Anlage gibt es ab Stufe 5. Die höchste Stufe 7 hat bisher nur der Unfall von Tschernobyl 1986 in der Ukraine erreicht.
1952: Chalk River, Kanada (INES 5)
Im Forschungsreaktor der Chalk River Laboratories in der Nähe von Ottawa kommt es durch menschliches Versagen am 12. Dezember 1952 zu einer teilweisen Kernschmelze. Es entsteht Wasserstoff, der sich entzündet und in einer Explosion mit dem Luftsauerstoff reagiert. Es werden große Mengen hochradioaktiver Spaltprodukte in die Atmosphäre freigesetzt, eine Verseuchung des Ottawa-Flusses wird gerade noch verhindert, indem kontaminiertes Wasser aus dem Reaktorcontainment in eine Sickergrube gepumpt wird.
1957: Unfall von Mayak, Sowjetunion (INES 6)
In der Wiederaufbereitungsanlage von Kyschtym in der Sowjetunion fallen Tanks mit atomaren Abfallprodukten, darunter radioaktive Nitratsalze, trocken und entzünden sich. Die Explosion am 29. September 1957 verteilt verseuchtes Material über ein Gebiet von rund 20.000 Quadratkilometern. Da die Partikel nicht sehr hoch in die Atmosphäre geschleudert werden, bleibt die Verseuchung lokal begrenzt. Der Unfall, der 30 Jahre lang geheimgehalten wurde, gilt heute nach Tschernobyl als zweitgrößter Atomunfall der Geschichte.
1957: Sellafield, Großbritannien (INES 5)
Bei einem routinemäßigen Ausheizen des durch Graphit kontrollierten Reaktors von Windscale (heute Sellafield) kommt es am 7. Oktober 1957 zu einem Brand im Graphitkern. Tagelang brennt der mit Uran befüllte Kern mit Temperaturen von bis zu 1.300 Grad Celsius und kann nicht gelöscht werden. Während dieser Zeit werden große Mengen radioaktives Iod, Cäsium, Plutonium und Strontium freigesetzt, die Bevölkerung wird jedoch nicht informiert. Erst am 12. Oktober gelingt es, den Kern zu fluten und den Brand zu stoppen, dabei wird erneut Radioaktivität frei.
1959: Simi Valley, USA (INES 5-6)
In einem Schnellen Brüter des Santa Susana Field Laboratory in Kalifornien kommt es durch einen verstopften Kühlkanal zu einer teilweisen Kernschmelze. Rund 30 Prozent der Brennelemente werden dabei zerstört, die entstehenden Gase und radioaktiven Partikel werden einfach in die Außenluft abgeleitet. Der lange Zeit geheim gehaltene Unfall gilt als eine der größten Freisetzungen von radioaktivem Jod in der Geschichte der Kernkraft.
1969: Lucens, Schweiz (INES 4-5)
Während einer knapp einjährigen Betriebspause des Versuchsreaktors Lucens im Kanton Waadt führt eine defekte Dichtung dazu, dass die Brennstabhüllen aus Magnesium korrodieren. Der Reaktor wird, ohne dies zu ahnen, im Januar 1969 wieder angefahren. Am 21. Januar führt dies zu einer Überhitzung der Brennstäbe, einem Brand und einer teilweisen Kernschmelze. Radioaktiv verseuchtes Schweres Wasser tritt aus. Da sich der Reaktor in einer Feldkaverne befand, konnte die Freisetzung an die Umwelt miniert werden. Die gesamte Höhle wurde versiegelt und später Stück für Stück aufgeräumt.
1978: Belojarsk, Sowjetunion (INES 3-4)
50 Kilometer von der Großstadt Jekaterinburg entfernt wurde 1958 das Kernkraftwerk Belojarsk als erstes ziviles Atomkraftwerk der UdSSR in Betrieb genommen. 20 Jahre später kommt es hier fast zu einem GAU, als im Dezember das Dach der Turbinenhalle einstürzt und einen Großbrand auslöst. Das Feuer zerstört Messleitungen zum Reaktorkern und erschwert die Notabschaltung der Anlage. In der nahegelegenen Stadt Jekaterinburg bricht Panik aus, eine Evakuierung wird vorbereitet. Nach einigen Stunden jedoch ist der Reaktor wieder unter Kontrolle. Beim Unfall von Tschernobyl wurden bei diesem Unfall erprobte Maßnahmen in Teilen übernommen.
1979: Three Mile Island, USA (INES 5)
Eine Mischung aus technischem und menschlichem Versagen führt im Kernkraftwerk Three Mile Island nahe der Stadt Harrisburg zu einer Kernschmelze. 50 Prozent des Kernbrennstoffs schmelzen und sammeln sich als Uranlava am Grund des Reaktorgefäßes. Ablassen von sich entwickelnden Wasserstoffgasen setzt auch radioaktive Nuklide frei. Dieser bisher schwerste Unfall in einem Kernkraftwerk der USA ereignete sich nur zwei Wochen, nachdem in den USA der Spielfilm „China Syndrom“ anlief, indem ein fiktiver Unfall die realen Geschehnisse quasi vorwegnahm.
1985: Wladiwostok, Sowjetunion (INES 5)
Beim Auswechseln der Brennelemente eines Atom-U-Bootes kommt es im August 1985 zur Beinahe-Katastrophe: Der Reaktordeckel wird nicht korrekt aufgesetzt. Dies löst eine unkontrollierte Kettenreaktion aus. Die nach dem Verdampfen des Kühlmittels erfolgte Explosion verseucht das Hafenpier und tötet zehn Menschen sofort durch die Strahlung, weitere 29 werden akut strahlenkrank. Die in einer Wolke freigesetzten Radionuklide verfehlen dank günstiger Winde die Großstadt Wladiwostok.
1986: Tschernobyl, Ukraine (INES 7)
Der Reaktorunfall von Tschernobyl gilt als schwerstes Reaktorunglück der nuklearen Geschichte und als bisher einziger Super-GAU. Im Block 4 kommt es am 26. April während eines Tests durch menschliches Versagen zu einer Kernschmelze. Die Kontrollstäbe aus Graphit entzünden sich und der gesamte Reaktorkern explodiert. Spaltprodukte werden hoch in die Atmosphäre geschleudert und ziehen als radioaktive Wolke bis nach Mitteleuropa und den Norden Skandinaviens. Mehr als 300.000 Menschen müssen aus den kontaminierten Gebieten – darunter auch die Stadt Pripjat – evakuiert werden. Bis heute sind große Teile um den ehemaligen Reaktor Sperrgebiet.
1999: Tokai-mura, Japan (INES 4-5)
Am 30. September 1999 füllen Arbeiter in der Brennelementefabrik Tokai-mura aus Versehen acht Mal mehr angereichertes Uran in einen Tank als zulässig und überschreiten damit die kritische Grenze. Eine unkontrollierte Kettenreaktion ist die Folge, bei der hohe Dosen Radioaktivität freiwerden. Mehrere hundert Menschen werden kontaminiert, einige Arbeiter schwer. 300.000 Anwohner müssen zum Schutz in ihren Häusern bleiben.
Nadja Podbregar
Stand: 18.03.2011