Mit Homo erectus, Homo habilis und Homo rudolfensis tummeln sich in unserer Ahnengalerie gleich mehrere Frühmenschenarten, die nahezu zur gleichen Zeit fast am gleichen Ort existierten. Ob sie wirklich eigene Arten waren und welchem von ihnen den Ehrenplatz als unserem direkten Vorfahren gebührt, ist nach wie vor offen. Innerhalb der Paläoanthropologen sind die Meinungen dazu geteilt.
Antlitz eines Homo
Im Herbst 2013 dann sorgte ein neuer Schädelfund für Aufregung: Bei Grabungen auf dem Dmanissi-Plateau im Süden Georgiens stießen Paläontologen auf den ersten komplett vollständig erhaltenen, 1,8 Millionen Jahre alten Schädel eines erwachsenen Frühmenschen. „Das ist das erste Exemplar, dass belegt, wie das Gesicht eines erwachsenen Homo aussah und wie es im Verhältnis zum Hirnschädel ausgerichtet war“, erklären die Forscher.
Bisherige Funde in Dmanissi wurden zwar der Gattung Homo zugeordnet, weil sie große Ähnlichkeit sowohl mit Homo habilis als auch Homo erectus besaßen. Doch weil die Schädel und Skelette alle unvollständig waren, blieb strittig, um welche Frühmenschenart es sich dabei handelte.
Kleines Hirn, moderner Körper
Der neue Schädelfund aber enthüllte Überraschendes – und könnte den Menschenstammbaum noch einmal kräftig durcheinander wirbeln. Denn das Gehirn dieses Frühmenschen war ungewöhnlich klein: Mit einem Volumen von nur 546 Kubikzentimeter lag es noch unter dem des Homo habilis und Homo rudolfensis und fast im Bereich der Australopithecinen. Das aber widerlegt die bisherige Annahme, dass die ersten Menschen erst dann aus Afrika auswanderten, als ihr Gehirn bereits deutlich größer geworden war.
Trotz seines eher primitiv kleinen Gehirns besaß der Mann von Dmanissi bereits einen relativ fortschrittlichen Körperbau und ein ausgeprägtes, fast schon an den „Nutcracker Man“ erinnerndes Gesicht. Erstaunlich ist dies deshalb, weil er sich damit stark von den früheren Dmanissi-Funden stark unterscheidet. Zusammen zeigen sie erstmals, wie groß die Variationsbreite unserer Vorfahren selbst innerhalb einer Population war.
Alle eine Art?
Das aber ist der springende Punkt: Hätte man die Dmanissi-Funde an jeweils anderen Orten entdeckt, wären sie vermutlich alle unterschiedlichen Arten zugeordnet. Doch diese Frühmenschen lebten offensichtlich alle am gleichen Ort und zur gleichen Zeit. War aber die Variationsbreite vor rund 1,8 Millionen Jahren wirklich so groß, dann könnte die gesamte Aufspaltung des menschlichen Stammbaums in verschiedene frühe Homo-Arten falsch sein. Denn auch Homo habilis, Homo rudolfensis und Homo erectus sind einander nicht unähnlicher als die Dmanissi-Menschen.
„Die morphologischen Unterschiede der um 1,8 Millionen Jahre alten afrikanischen Fossilien reflektieren dann eine einzige, sich entwickelnde Linie des Homo erectus“, konstatierten David Lordkipanidze vom Georgischen Nationalmuseum in Tiflis und seine Kollegen in ihrem „Science“-Artikel. Damit aber könnte sich der Kreis zum einfachen Stammbaum der 1960er Jahre wieder schließen. Oder aber die Evolution unserer Vorfahren war sogar noch weitaus komplexer und an Umwegen reicher als wir es gerne hätten.
Klar ist jedenfalls: Die anhaltende Verwirrung und Debatte über die Wurzeln unserer Gattung haben wir in großen Teilen einem Fund zu verdanken – „Johnnys Kind“, dem ersten in der Olduvai-Schlucht entdeckten Frühmenschen. Seine Präsentation als Homo habilis vor 50 Jahren trat Entwicklung los, die bis heute nicht abgeschlossen ist.
Nadja Podbregar
Stand: 25.04.2014