Auf der Suche nach dem Geheimnis der „ewig“ lebenden Hydra haben sich die Heidelberger Forscher auch die Gene des Nesseltieres näher angeschaut. Die Erbanlagen des Süßwasserpolypen umfassen rund 20.000 Gene.
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Transkriptionsfaktoren setzen Zellen zurück
Eine Gemeinsamkeit haben Holstein und seine Kollegen bereits entdeckt: Eine Reihe von Genen, die bei Hydra in den Stammzellen und Keimbahnzellen abgelesen und über Ribonukleinsäuren (RNA) in Proteine übersetzt werden, kommen auch bei Wirbeltieren in somatischen Stammzellen vor. Darunter befinden sich zwei Proteine namens Piwi und Vasa, die an RNA binden und die Genaktivität so regulieren. Bei Säugetieren wurden Proteine – Nanog, Oct4 und Sox2 – identifiziert, die direkt an die DNA binden und auf diese Weise Gene an- oder abschalten.
Proteine mit einer solchen regulatorischen Funktion werden Transkriptionsfaktoren genannt. Von den Transkriptionsfaktoren Nanog, Oct4 und Sox2 ist bekannt, dass sie Zellen, die bereits ausgereift sind, in den Zustand der Pluripotenz zurückversetzen können. Sie befähigen die Zellen wieder dazu, zu vielen verschiedenen Zelltypen auszureifen. Wichtig sind auch die Transkriptionsfaktoren Myc und Klf4. Sie sorgen dafür, dass die Eigenschaften der Stammzellen zur Vermehrung erhalten bleiben.
Außer Sox2 und Myc kommen die meisten dieser Transkriptionsfaktoren nur in Säugetieren und nicht in anderen Tiergruppen vor. Dies lässt vermuten, dass einige der regulatorischen Stammzellgene im Laufe der Evolution neu entstanden sind. Bei Hydra und anderen Nesseltieren werden die Gene Myc und Sox2 sowie Piwi und Vasa in interstitiellen Stammzellen beziehungsweise in Keimbahnzellen
abgelesen und in Proteine übersetzt.
Signalweg ähnlich, Ergebnis verschieden
Die Beschaffenheit der Stammzellnische und das Ausreifen der Stammzellen zu Zellen mit besonderer Funktion werden auch von löslichen Signalfaktoren bestimmt oder von Signalfaktoren, die in der äußeren Membran der Zellen verankert sind. Eine Schlüsselrolle kommt dem sogenannten Beta-Catenin/Wnt-Signalweg zu. Beim Menschen steuert er unter anderem die Differenzierung von Stammzellen im Darm und im Knochenmark. Wenn sich die Gene verändern, die für die Signalfaktoren des Beta-Catenin/Wnt-Signalweges zuständig sind, werden verschiedene Typen von Krebs ausgelöst.
Auch bei Hydra spielt der Wnt-Signalweg eine zentrale Rolle: Er ist wichtig für die epithelialen Stammzellen und den Aufbau eines Signalzentrums, das die Musterbildung des Körpers steuert. Bei Nessel- und Wirbeltieren werden die Gene des Wnt-Signalweges im Embryo aktiviert, und zwar genau dann, wenn sich während der Gastrulation der Urmund und die Keimblätter bilden, aus denen später die verschiedenen Organe hervorgehen. Wahrscheinlich bilden lösliche Wnt-Proteine einen Konzentrationsgradienten, der Transkriptionsfaktoren aktiviert, die das Schicksal der Stammzellen steuern.
Wenn wir verstehen, welche Moleküle die Stammzellen von Hydra regulieren, können wir womöglich auch nachvollziehen, welche Moleküle für die unbegrenzte Regenerationsfähigkeit verantwortlich sind. Stammzellen sind ein grundlegendes Prinzip des Lebens von Tieren und Pflanzen, und Fehlregulationen der Stammzellerneuerung können Menschen und andere Säugetiere frühzeitig altern oder an Krebs erkranken lassen. Wir wollen mit unseren Forschungsarbeiten Wege eröffnen, um eine fehlregulierte Stammzellerneuerung gezielt zu beeinflussen.
Thomas Holstein / Ruperto Carola, Universität Heidelberg
Stand: 02.11.2012