Doch abseits von Sprache, kulturellen Errungenschaften oder der Sozialstruktur gibt es noch eine andere mögliche Erklärung für den Erfolg des Homo sapiens: seine Ökologie und Lebensweise. Unsere Vorfahren könnten demnach von einer großen biologischen Vielfalt, aber auch von einer besonderen Anpassungsfähigkeit an verschiedene Lebensräume profitiert haben.
Mosaik statt Abfolge
Wenn man sich die frühesten Vertreter des Homo sapiens anschaut, fällt vor allem eines auf: Sie sind sehr verschieden. So besitzen die Fossilien aus dem marokkanischen Jebel Irhoud zarte, schon sehr moderne Gesichter, aber einen sehr flachen Hirrnschädel. Die kaum weniger alten Schädel aus Herto und Omo Kibish in Äthiopien dagegen haben bereits den für unsere Spezies typischen gewölbten Hirnschädel, dafür aber ein gröberes Gesicht und insgesamt robustere Schädel. Jede dieser Populationen trägt damit bereits charakteristische Kennzeichen des Homo sapiens – aber jeweils unterschiedliche.
Entgegen früheren Annahmen scheint unsere Art zudem nicht an nur einem Ort entstanden zu sein, sondern sie tauchte fast zeitgleich überall in Afrika auf, wie sowohl DNA-Analysen als auch archäologische Funde nahelegen. Damit aber ähnelt die Entwicklung unserer Vorfahren eher einem Mosaik als einer geordneten Abfolge von immer fortgeschritteneren Varianten. „Die Chronologie und anatomische Vielfalt der menschlichen Fossilien aus dem Pleistozän deuten darauf hin, dass damals mehrere morphologisch verschiedene Populationen des Homo sapiens in Afrika lebten“, sagt Eleanor Scerri von der University of Oxford.
Vorübergehende Isolation als Evolutionsmotor?
Genau dieses Mosaik könnte nach Ansicht von Scerri und ihren Kollegen das Erfolgsgeheimnis unserer Vorfahren gewesen sein. Die ersten Vorläufer unserer Spezies bildeten sich demnach aus einer ursprünglich großen gemeinsamen Ausgangspopulation. Durch Auswanderungen und wiederholte Klimawechsel kam es dann jedoch immer wieder zu vorübergehender Isolation von Untergruppen. Einige wurden durch Wüstengebiete abgetrennt, andere durch breite Flüsse.
„Diese Populationen waren durch solche ökologischen Barrieren oder weite Entfernungen über Jahrtausende halbisoliert“, so die Forscher. „Dadurch könnte die Evolution in verschiedenen Regionen unabhängig voneinander abgelaufen sein.“ Jede Gruppe entwickelte in dieser Zeit sowohl biologisch-genetisch als auch kulturell leicht unterschiedliche Merkmale.
Als dann durch erneute Klimawechsel die Barrieren wegfielen, konnten die zuvor isolierten Gruppen wieder in Kontakt kommen. Dabei kam es zu einem genetischen und kulturellen Austausch, der die Entwicklung des Homo sapiens sprunghaft voranbrachte – so die Theorie von Scerri und ihren Kollegen. Denn die aus diesen Vermischungen neu entstehenden Populationen profitierten nun von den Anpassungen der verschiedenen Untergruppen. Damit gleicht die frühe Entwicklungsgeschichte unserer Spezies möglicherweise eher einem Zopf aus vielen Strängen als einer einheitlichen Stammeslinie.
Generalistischer Spezialist
In eine ähnliche Richtung geht das Szenario von Patrick Roberts vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena und seinem Kollegen Brain Stewart von der University of Michigan. Ihrer Ansicht nach war die Anpassung verschiedener Populationen unserer Spezies an ganz unterschiedliche, extreme Lebensräume entscheidend für ihren Erfolg.
Während Neandertaler und andere Vertreter der Gattung Homo vorwiegend Wald- und Savannenlandschaften bewohnten, drang der Homo sapiens wahrscheinlich auch in Wüsten, Kältesteppen, Hochgebirgslagen und Regenwälder vor – so die Hypothese der Wissenschaftler. „Damit bildete der Homo sapiens spezialisierte Populationen innerhalb seiner eigentlich zu den Generalisten gehörenden Spezies“, erklärt Roberts. „Unsere Art entwickelte damit eine neue ökologische Nische, die des ‚generalistischen Spezialisten‘.“
Vorsprung durch Vielfalt
Diese Fähigkeit, ganz verschiedene und extreme Lebensräume zu besiedeln, könnte dem Homo sapiens den entscheidenden Überlebensvorteil gegenüber den anderen Menschenarten verliehen haben. Denn kombiniert mit dem Austausch zwischen verschiedenen Menschengruppen über größere Distanzen hinweg konnten unsere Vorfahren dadurch selbst wechselnden Umweltbedingungen vermutlich besser standhalten, wie Roberts und Stewart erklären.
Noch allerdings gibt es kaum Fossilfunde, die die These der beiden Forscher stützen. „Wie auch in anderen Fällen erschweren Probleme der Konservierung die genaue Bestimmung des Ursprungs des Menschen als ökologischer Vorreiter“, sagt Roberts. „Eine ökologische Perspektive auf den Ursprung und die Natur unserer Spezies erklärt jedoch potenziell den einzigartigen Weg des Homo sapiens, der schnell die verschiedenen Kontinente und Umgebungen der Erde beherrschte.“
Noch sind alle diese Szenarien mehr Spekulation als belegte Wissenschaft. Unklar ist auch, ob einer der diskutierten Faktoren den Ausschlag gab oder ob es ein zufälliges Zusammentreffen gleich mehrerer glücklicher Umstände gab. Was unseren Vorfahren wirklich den entscheidenden Vorteil gegenüber ihren Verwandten gab, bleibt daher weiterhin ihr Geheimnis.
Nadja Podbregar
Stand: 14.09.2018