Archibald Cochranes kontinuierliches Bestreben, die medizinische Forschung und Praxis voranzubringen, gipfelt 1972 in der Veröffentlichung seines viel beachteten Buchs „Effectiveness and Efficiency: Random reflections on health services“. Darin übt er harsche Kritik am Stand der Medizin in Großbritannien. Seine drastische Aussage: Für viele gängigen Interventionen und Behandlungen fehlen schlichtweg gute Belege über deren Wirksamkeit – und die Entscheidungen der meisten Ärzte sind vielfach von Unwissenheit und subjektiven Meinungen beeinflusst anstatt von objektiven Fakten.
Plädoyer für gute Methodik
Klar formuliert der Mediziner in seinem knapp hundert Seiten langen Essay, was zur Beseitigung dieser Misere zu tun sei: Die begrenzten Ressourcen im Gesundheitswesen sollen gerecht und nur für jene Formen der Versorgung eingesetzt werden, die sich in methodisch guten Studien als wirksam erwiesen haben.
Methodisch gut sind für Cochrane in erster Linie randomisierte, kontrollierte Studien – Untersuchungen, bei denen eine Therapie mit einer anderen Methode oder einer Scheinbehandlung verglichen wird und die Probanden zufällig auf beide Untersuchungsgruppen verteilt werden. Diese liefern ihm zufolge viel zuverlässigere Informationen als klinische Studien mit anderen Designs. Nur sie erlauben einen adäquaten Kosten-Nutzen Vergleich.
Ein weitreichendes Problem
Cochranes Worte erregen großes Aufsehen. Dabei ist er mitnichten der Erste, der den Nutzen medizinischer Therapien infrage stellt – und schon zehn Jahre zuvor hat der Contergan-Skandal der Welt ein erschütterndes Negativbeispiel geliefert. In den USA hat dies dazu geführt, dass für die Zulassung von Arzneimitteln bereits ein Wirksamkeitsnachweis aus „adäquaten und gut kontrollierten Untersuchungen“ verlangt wird.
Was also ist das Besondere an „Effectiveness and Efficiency“? „Cochranes Buch ist damals so einzigartig, weil es eine überwältigende Anzahl von Studien nutzt, um zu zeigen, dass das Problem der Evidenz nicht nur einen kleinen Teil der Medizin betrifft, sondern alle Bereiche durchdringt“, betonen Hriday Shah und Kevin Chung von der University of Michigan in Ann Arbor.
„Cochrane bespricht verschiedene Krankheitsbilder wie Diabetes oder koronare Herzerkrankungen und veranschaulicht an ihnen, dass etliche tagtäglich angewandte Therapieformen nie vollständig auf ihre Wirksamkeit getestet worden sind. Die Aufzählung von einem Beispiel nach dem anderen macht seine Argumentation so schlüssig und aussagekräftig“, sagen die Mediziner.
Anstoß für eine internationale Debatte
Cochranes umfassende Kritik bringt nicht nur auf den britischen Inseln einen Stein ins Rollen. Sein Buch verbreitet sich neben dem englischen Sprachraum nach der Übersetzung ins Spanische, Französische, Italienische und Polnische auch in anderen Kulturkreisen. Eine internationale Debatte beginnt, der Veröffentlichungen anderer Autoren weiteren Zündstoff verleihen.
So fängt der US-amerikanische Mediziner John Wennberg ab 1973 an zu dokumentieren, wie unterschiedlich die Versorgung von Patienten in den USA bisweilen aussieht – etwa je nach Wohnort und Krankenhaus, das sie besuchen. Der Mathematiker David Eddy deckt wenige Jahre nach Cochrane Fehler in klinischen Beweisführungen auf. Forscher um den Kanadier David Sacket publizieren Bücher über epidemiologische Methoden und wie man diese auf den Prozess der Entscheidungsfindung von Medizinern übertragen kann.
„Ein Meilenstein“
Auch Cochrane selbst meldet sich sieben Jahre nach der Veröffentlichung seines Buchs erneut mit einem einflussreichen Beitrag zu Wort: Er merkt sinngemäß an, dass Mediziner sich im Alltag schwerlich durch eine Litanei sämtlicher Studien zu einem Thema arbeiten können. Darüber hinaus wüssten sie oft nicht, welche der verfügbaren Untersuchungen die beste sei. Er kommt zu dem Schluss: Es müsste regelmäßig kritische Zusammenfassungen und Auswertungen aller relevanten Studien zu einem Fachgebiet oder Thema geben, die Ärzten zur Verfügung gestellt werden.
1987 veröffentlichen Wissenschaftler eine systematische Überblicksarbeit von Studien zur Versorgung während Schwangerschaft und Geburt wie Cochrane sie sich acht Jahre zuvor ausgemalt hatte. Er bezeichnet diese Arbeit als „echten Meilenstein in der Geschichte der randomisierten Studien und der Bewertung der Gesundheitsversorgung“. Gleichzeitig plädiert er erneut dafür, dass andere Fachgebiete diese Methodik übernehmen sollten. Wenige Jahre nach seinem Tod im Jahr 1988 findet sein Aufruf Gehör.
Daniela Albat
Stand: 02.12.2016