Im russischen Akademgorodok, einer schon unter Stalin gegründeten Wissenschaftsstadt bei Nowosibirsk, arbeitete Hare am Institut für Psychologie und Genetik. Dort läuft seit 1959 ein einzigartiges Experiment: die künstliche Domestizierung des Silberfuchses. Die Füchse wurden nur auf ein einziges Merkmal hin gezüchtet: Zeigt das einzelne Tier Angst vor dem Menschen? Wenn ja, wird es nicht weitergezüchtet.
Das Ergebnis ist verblüffend. Bereits nach einigen Dutzend Generationen hat sich das Verhalten der Füchse grundlegend gewandelt. Sie haben keine Scheu vor dem Menschen. Sie bellen. Sie winseln, sie wedeln mit dem Schwanz, wenn sie einen vertrauten Menschen sehen. Kurzum, sie verhalten sich wie Haushunde. Auch ihr Äußeres hat sich verändert: Sie haben Schlappohren, kurze Schwänze und Fell in unterschiedlichen Färbungen. Ihr Skelett ist schwächer, Knochen und Zähne sind kleiner. In Stressapparat und Hormonhaushalt unterscheiden sich die Tiere grundlegend von ihren wilden Artgenossen. Die sibirischen Forscher halten auch eine Kontrollgruppe von Füchsen, die nicht auf fehlende Angst vor dem Menschen hin selektiert wurden. So sind Vergleiche möglich.
„Evolution at work“
„Was wir an den Füchsen beobachten, ist evolution at work“, sagt Hare. „Wir kennen den Auslesemechanismus genau und können Unterschiede zwischen beiden Gruppen eindeutig darauf zurückführen.“ Hare untersuchte, ob sich bei den domestizierten Füchsen die soziale Intelligenz verändert hatte. Die Antwort: ja. Die Hausfüchse waren eindeutig besser als die Füchse der Kontrollgruppe, wenn es darum ging, menschliche Gesten und Hinweise zu nutzen.
„Entscheidend bei diesem Projekt ist, dass die Füchse nicht auf ihre Intelligenz hin selektiert wurden“, kommentiert Hare die Ergebnisse. Die Auslese orientierte sich nur daran, ob die Tiere gegenüber dem Menschen Furcht und Aggression zeigten oder, positiv ausgedrückt, ob sie den Menschen tolerierten. Verliert ein Tier also seine Furcht und Angriffslust gegenüber einem potenziellen Sozialpartner – mit anderen Worten, ändert sich sein Temperament –, so scheint seine soziale Intelligenz zuzunehmen.
Toleranz als Schlüssel zum Verstand?
Was bei den sibirischen Füchsen passierte, dürfte auch für den Haushund gelten. Seine Domestizierung im Lauf der vielen Jahre, in denen Mensch und Hund zusammenlebten, hat sein ursprüngliches Wolfstemperament so verändert, dass beide sich tolerieren. Dieser Vorgang könnte auch für die Evolution des Menschen von Bedeutung sein: „Unsere Hypothese ist“, so Hare, „dass eine Veränderung des menschlichen Temperaments den Weg für seine weitere sozio-kognitive Evolution bereitet hat.“ Anders ausgedrückt: Erst mit zunehmender Toleranz seinen Artgenossen gegenüber kam der Mensch zu Verstand.
Stand: 20.10.2006