Seit Jahren leidet Herr X unter Migräne, mit fataler Regelmäßigkeit trifft sie ihn immer am Wochenende oder im Urlaub. Geplagt von Kopfschmerzen und Übelkeit verbringt er die kostbare Freizeit allzu oft in der abgedunkelten Wohnung. Normale Kopfschmerztabletten helfen kaum, schon gar nicht gegen die Übelkeit, spezielle Migränemittel verträgt er nicht und will sie seinem Körper auch nicht zumuten. Bekannte empfehlen ihm, es doch mal mit Homöopathie zu versuchen.
Sie gehören damit zu den 75 Prozent der Deutschen, für die laut einer 2006 vom Pharmakonzern Heel in Auftrag gegebenen Studie Homöopathie ein fester Begriff ist. Folgt Herr X ihrer Empfehlung, gehört er zu den 53 Prozent der Bevölkerung, die laut einer Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2009 schon einmal homöopathische Arzneimittel verwendet haben. Immerhin zwei Drittel der 1.800 Befragten hielten solche Präparate zudem für frei von Nebenwirkungen und gut die Hälfte für generell gut verträglich.
Über das Internet sucht sich Herr X einen homöopathischen Arzt in seiner Nähe, Auswahl hat er dabei reichlich: Allein in Deutschland gibt es mehr als 5.000 Mediziner mit homöopathischer Zusatzausbildung, nach einer Statistik des europäischen Herstellerverbands homöopathischer Medikamente ist dies etwa jeder 40. Arzt. Zu diesen kommen noch einmal zahlreiche Heilpraktiker mit homöopathischer Ausbildung hinzu. Herr X entscheidet sich für einen Arzt mit Homöopathieausbildung und macht einen Termin aus.
Die Erstanamnese
Die Sprechstundenhilfe weist ihn darauf hin, dass er Zeit mitbringen soll, denn die Erstanamnese, die erste Befragung, kann eine gute Stunde dauern. Tatsächlich nimmt sich der Arzt viel Zeit. Er befragt Herrn X nicht nur nach der Migräne und ihren Eigenschaften sondern interessiert sich auch für seine Essgewohnheiten, den Schlafrhythmus, das Berufsleben, seine Familienverhältnisse, frühere Krankheiten und auch seine seelisch-psychische Befindlichkeit. Herr X ist fast ein bisschen irritiert ob dieser Ausführlichkeit. Doch der Homöopath erklärt ihm, dass es darum gehe, sich ein ganzheitliches Bild seiner Persönlichkeit zu machen, um das für ihn individuell geeignete Mittel zu finden.
Ist der Homöopath über die Art der „Verstimmung der Lebenskraft“ im Klaren, schlägt er in einem Repertorium nach, einer nach Symptomen geordneten Arzneimittelliste. Hier sind homöopathische Mittel gelistet, deren Wirkung durch so genannte „Arzneimittelprüfungen“ festgestellt wurde. Diese haben allerdings nichts gemeinsam mit den klinischen Studien und Zulassungsprozessen, die medizinische Arzneimittel durchlaufen müssen.
Symptomkatalog per „Arzneimittelprüfung“
Stattdessen nehmen gesunde Freiwillige mehrere Tage oder Wochen lang die Substanz, deren Wirkung untersucht werden soll. Die Prüfer notieren während der Testphase sämtliche Veränderungen, sowohl körperlich als auch psychisch, die sie bemerken. Für diese Symptomkataloge gibt es keine festen Vorgaben oder Abfragen, die Aufzeichnungen sind daher individuell und subjektiv. Die Angaben aller Tester werden gesammelt, ausgewertet und dann daraus ein – entsprechend vielfältiges – Arzneimittelbild erstellt.
So soll „Nux vomica“, ein Präparat der Brechnuss, nicht nur bei Verdauungsbeschwerden, Darmverschluss, Nierenkoliken oder Übelkeit helfen, sondern auch gegen Akne, Migräne, Hexenschuss, Husten oder den Kater nach einer durchzechten Nacht. Insgesamt weit mehr als 100 Anwendungsgebiete listen einschlägige Websites für Nux vomica auf, viele davon für die Dosierungen D6 oder D12. Doch auch als D30 soll es seine spezifischen Wirkungsbereiche haben, unter anderem bei Hämorrhoiden, Zahnfleischbluten oder Heuschnupfen.
Gegen Angst und Weinerlichkeit…
Medizinisch „Vorbelasteten“ erscheint dies als reichlich willkürliche Aufreihung völlig unterschiedlicher – und auch in ihren Ursachen klar verschiedener Krankheitsbilder. Für den Homöopathen ist dies jedoch nur Ausdruck einer einzigen grundlegenden Störung – die im Idealfall auch nur mit einem einzigen hochpotenzierten „konstitutionellen“ Mittel behoben werden kann – beispielsweise mit Pulsatilla, einem Extrakt der Küchenschelle: „Pulsatilla ist ein wichtiges Konstitutionsmittel für den sehr femininen Frauentyp mit hellen Haaren, blauen Augen und einer weinerlich-depressiven Gestimmtheit“, heißt es in einem Lexikon homöopathischer Mittel und ihrer Einsatzgebiete. Das erinnert zwar eher an die Typenlehre des Altertums als an individuelle Einstufung, ist aber auch heute noch Bestandteil homöopathischer Lehre.
Der Homöopath von Herrn X entscheidet sich für das Mittel Iris versicolor D6. Als klassischer Homöopath setzt er gemäß der Tradition Hahnemanns ausschließlich Einzelmittel ein, Präparate mit nur einer Komponente. Komplexmittel, wie sie vielfach zur Selbstmedikation empfohlen und auch von vielen niedergelassenen Medizinern verordnet werden, lehnt er dagegen als zu unspezifisch ab, wie auch der Verband klassischer Homöopathen Deutschlands und der Zentralverein homöopathischer Ärzte.
„Abergläubisch-magisches Verfahren“ auf Krankenkassenkosten?
Die Kosten für die Anamnese und die Folgebesuche beim Homöopathen muss Herr X noch nicht einmal selbst zahlen. Denn seine Krankenkasse ist eine von inzwischen 120 in Deutschland, die im Rahmen der so genannten „Integrierten Versorgung“ Verträge mit homöopathischen Ärzten schließt und dann deren Behandlungskosten übernimmt. Da Herr X einen solchen Vertragsarzt ausgewählt hat, bleiben für ihn nur die Kosten für das homöopathische Arzneimittel übrig. Wäre er privat versichert, hätte er sogar komplett freie Arztwahl.
Die Meinungen über diese Kostenübernahmen sind allerdings geteilt. Während Krankenkassenvertreter und homöopathische Ärzte damit vor allem der Nachfrage seitens der Patienten nachkommen wollen, formulierten 130 Forscher aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, im Jahr 2005 einen Appell gegen die schleichende Anerkennung der Homöopathie als Heilverfahren. Angesichts der schwierigen Finanzsituation der Krankenkassen sei die Anerkennung dieses „abergläubisch-magischen Verfahrens“ ein Skandal, erklärt Amardeo Sarma, Leiter der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), auf deren Untersuchungen die Aktion basierte.
Nadja Podbregar
Stand: 26.03.2010