Eines der Rätsel rund um die Minoer ist ihr Ursprung: Woher die Begründer dieser Hochkultur einst kamen, ist umstritten. Klar ist, dass die ersten Menschen die Insel Kreta vor etwa 9.000 Jahren erreichten. Zu dieser Zeit begann im Nahen Osten gerade die neolithische Revolution – der Wandel von Jäger- und Sammler-Kulturen zu sesshaften Bauern. Vom fruchtbaren Halbmond und Kleinasien aus breitete sich die Landwirtschaft in den folgenden Jahrtausenden allmählich über ganz Europa aus.
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Vom Dorf zum Palast
Auch die ersten Bewohner Kretas gehörten schon zu diesen frühen steinzeitlichen Bauern. Sie lebten, wie für ihre Zeit typisch, in eher kleineren Siedlungen zusammen und hatten offenbar zunächst wenig Ambitionen auf mehr. Doch etwa ab 3500 vor Christus, in der frühen Bronzezeit, wandelte sich das Bild: Archäologische Funde deuten darauf hin, dass die Bevölkerungsdichte damals sehr schnell stark zunahm. Immer mehr Siedlungen entstehen nun und breiten sich aus, außerdem tauchen erstmals Kuppelgräber, sogenannte Tholoi, im Süden Kretas auf.
Ab etwa 2000 vor Christus erbauen die Minoer die ersten Paläste, unter anderem in Knossos, Malia und Phaistos. Um diese Anlagen herum entstehen jetzt größere Städte – komplexe Siedlungszentren mit Straßen, einem Entwässerungssystem und Gebäuden mit ganz unterschiedlichen Funktionen. Ihre Bewohner beginnen, eine Schrift zu entwickeln und zu nutzen – davon zeugen Siegel aus dieser Zeit. Die minoische Hochkultur ist geboren.
Einwanderer als Kulturbringer?
Aber was verursachte diesen Umschwung von „ganz normalen“ Bauern zur ersten Hochkultur Europas? Entwickelten sich die steinzeitlichen Bewohner der Inseln von sich aus weiter? Oder waren es vielleicht Einwanderer, die der kulturellen Entwicklung den entscheidenden Schub gaben? Zumindest der britische Archäologe Sir Arthur Evans war von Letzterem überzeugt. Er hatte um 1900 die Ruinen von Knossos entdeckt und war überzeugt, dass die Erbauer dieses Palastes aus einer der bekanntesten Hochkulturen am Mittelmeer stammen mussten – aus Ägypten.
„Er begründete dies mit auffallenden Ähnlichkeiten zwischen der minoischen und ägyptischen Kunst“, erklären Jeffery Hughey vom Hartnell College in Kalifornien und seine Kollegen, die den Ursprung der Minoer Anfang 2013 noch einmal genauer untersuchten. Tatsächlich spricht auf den ersten Blick Einiges für Evans‘ Idee:
Flüchtlinge aus Ägypten?
Kurz bevor das minoische Reich erblühte und die ersten Paläste scheinbar aus dem Nichts entstanden, gab es in Ägypten eine folgenreiche Umwälzung. Etwa 3000 vor Christus führte König Narmer von Oberägypten einen Militäreinsatz gegen das im Norden liegende Unterägypten durch und war siegreich. Das aber könnte dazu geführt haben, dass Flüchtlinge aus der Deltaregion des Nils vor den Truppen aus dem Süden flohen – und dabei möglicherweise über Umwege auch nach Kreta gelangten. Immerhin ähnelten auch die Rundgräber der frühen Minoer stark den damals im Nahen Osten üblichen Grabbauten.
Allerdings: Andere Archäologen haben seither auch Parallelen zu anderen Kulturen der damaligen Zeit gefunden, sie sehen daher den Ursprung der Minoer eher in Syrien, Palästina, in Anatolien oder auch auf den Kykladen. Auch Versuche, die Herkunft der Minoer anhand von Erbgut aus minoischen Gräbern zu bestimmen, ergaben eher widersprüchliche Ergebnisse.
Nadja Podbregar
Stand: 18.07.2014