Nicht an Körperzellen, sondern an den Keimzellen setzen die Versuche anderer Forscher an. Ihr Ausgangsmaterial: Hodengewebe. Der Hoden ist ein scheinbar unerschöpfliches Organ: Das ganze Leben eines Mannes über produziert er ständig neuen Nachschub an Spermien. Selbst im Alter von 70, 80 oder 85 Jahren funktioniert dies noch. Schon lange haben Forscher daher vermutet, dass sich auch im Hodengewebe potente Stammzellen verbergen müssen. Tatsächlich sind gleich mehrere Forscherteams auf solche Multitalente in den männlichen Keimdrüsen von Menschen und Mäusen gestoßen.
Pluripotent mit Nachhilfe
Den Anfang machte 2004 ein Team um Takashi Shinohara. Die Japaner hatten entdeckt, dass bestimmte Zellen im Hoden neugeborener Mäuse wie embryonale Stammzellen in der Lage sind, sich zu verschiedenartigen Geweben zu entwickeln. Aber was ist mit dem Hoden erwachsener Tiere? 2008 gelang es einem deutsch-britischen Forscherteam, auch aus adultem Hodengewebe pluripotente Zellen zu erzeugen – allerdings nur mit etwas Nachhilfe. Ihr Ausgangsmaterial waren dabei Spermatogonien. Diese Zellen stellen unter normalen Bedingungen Vorläuferzellen von Spermien und später die Spermien selbst her.
Für ihre Studie isolierten die Wissenschaftler diese Zellen zunächst gezielt aus dem restlichen Hodengewebe und kultivierten sie unter bestimmten Bedingungen. Dadurch durchliefen die Spermatogonien nicht ihr normales genetisches Programm, sondern nahmen eine umfassende Umprogrammierung vor. Nach mehreren Veränderungen der Wachstumsbedingungen war es dann soweit: Aus den Hodenzellen waren Stammzellen entstanden. Unter den Versuchsbedingungen im Labor erwiesen sich diese reprogrammierten Zellen als fast genauso vielseitig wie embryonale Stammzellen und konnten ganz unterschiedliche Zell- und Gewebetypen bilden.
Nur zwei unter 10.000
Noch einfacher gelang die Produktion solcher Alleskönner aus Hodengewebe einem Team um Kinarm Ko vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster. Ihr Ausgangspunkt waren sogenannte Keimbahn-Stammzellen – englisch „germline stem cells“, kurz GSCs, eine Vorstufe der Spermatogonien. In ihrem natürlichen Umfeld können diese Zellen nur eines: immer wieder neue Spermienvorläufer bilden. Zudem sind sie extrem rar gesät. Unter 10.000 Zellen im Hodengewebe einer Maus finden sich davon gerade einmal zwei oder drei. Dennoch lassen sie sich einzeln isolieren und als Zelllinie mit stabilen Eigenschaften vermehren. Unter üblichen Kulturbedingungen behalten sie wochen- und jahrelang ihre Unipotenz – sie sind ausschließlich in der Lage, sich selbst zu vermehren oder eben Spermien zu bilden.
Doch wie sich zeigte, genügt ein einfacher Trick, um die Zellen zu mehr Vielfalt anzuregen. Teilt man die Zellen auf neue Kulturschalen auf, versetzen sich einige von ihnen selbst in einen embryonalen Zustand zurück – vorausgesetzt, man lässt ihnen genügend Platz und genügend Zeit. „Jedes Mal, wenn wir ungefähr 8.000 Zellen in die einzelnen Gefäße der Zellkultur-Platten gefüllt hatten, haben sich einige der Zellen nach zwei Wochen selbst reprogrammiert“, berichtet Ko. Und ist der Schalter in diesen „germline-derived pluripotent stem cells“ (gPS) erst einmal umgelegt, fangen sie an, sich rasant zu vermehren.
Nervenzellen aus Hodengewebe
Dass der Neustart der Zellen tatsächlich geklappt hatte, belegten die Forscher anhand zahlreicher Tests. Aus den umgewandelten Zellen ließen sich demnach ebenso gut Herz-, Nerven- oder Endothelzellen züchten wie aus embryonalen Stammzellen. Die Wissenschaftler konnten mit den neuen gPS auch Mäuse mit gemischtem Erbgut, sogenannte Chimären, erzeugen und zeigen, dass die aus dem Hoden gewonnenen Zellen ihr Erbgut in die nächste Generation weiter tragen können.
Nachteil allerdings: Die Spermienzellen und ihre Vorläufer tragen zwar das komplette Genom in sich, aus ihnen gehen aber nur männliche Nachfahren hervor. Versuche ergaben zudem, dass bei ähnlichen Versuchen mit weiblichen Keimzellen die resultierenden Zellen nur eingeschränkt pluripotent waren. Sie konnten sich zwar zu einigen anderen Zelltypen differenzieren, aber bei weitem nicht zu einer so breiten Palette wie benötigt.
Nadja Podbregar
Stand: 13.09.2013