Unter dem Titel „Heilkunde der Erfahrung“ veröffentlicht Samuel Hahnemann 1805 seine gesammelten Erfahrungen und postuliert eine ganz neue Medizin – eine, die sich von der Schulmedizin der damaligen Zeit diametral unterscheidet. Denn diese ist alles andere als sanft, kuriert wird mit Aderlass, Brech- und Abführkuren und weiteren drastischen Methoden. Die Ursachen vieler Krankheiten sind im ausgehenden 18. Jahrhundert noch unbekannt, die Ärzte führen zahlreiche Erkrankungen auf einen Überschuss bestimmter „Säfte“ zurück. Dementsprechend versuchen sie beispielsweise Kopfschmerzen zu heilen, indem sie ihren Patienten die Stirn einritzen um den „Überschuss“ an Blut im Kopf zu beheben.
„Es scheint das unselige Hauptgeschäft der alten Medicin zu sein, die Mehrzahl der Krankheiten, die langwierigen, durch fortwährendes Schwächen und Quälen des ohnehin schon an seiner Krankheitsplage leidenden, schwachen Kranken und durch Hinzufügung neuer, zerstörender Arzneikrankheiten, wo nicht tödtlich, doch wenigstens unheilbar zu machen“, kritisiert Hahnemann die gängigen Gepflogenheiten.
Gestörte Lebenskraft
Für ihn sind nicht nur die drastischen Mittel falsch gewählt, er hält auch den gesamten Ansatz eines Versuchs der Ursachenbekämpfung für falsch: „Den vermeintlichen Charakter des Übels hielten sie für die Krankheitsursache und richteten daher ihre angeblichen Causal-curen gegen Krampf, Entzündung, Fieber, allgemeine und partielle Schwäche, Schleim, Fäulnis, Infarkte u.s.w….“ Zwar wird die Existenz von Bakterien als Krankheitsauslösern erst nach seinem Tod belegt, doch auch die damals schon kursierenden Theorien darüber lehnt er komplett ab.
Für Hahnemann ist Krankheit etwas Umfassenderes: „Im gesunden Zustand des Menschen waltet die geistartige, …belebende Lebenskraft unumschränkt und hält alle seine Theile in bewundernswürdig harmonischem Lebensgange…“. Sei diese Lebenskraft jedoch gestört, entstehe Krankheit. Für eine Heilung gelte es daher, den Menschen in seiner Gesamtheit zu behandeln, um die Lebenskraft wiederherzustellen. Eine Behandlung mit Mitteln, die Symptome wie Fieber oder Entzündungen unterdrücken, führe nur zu einer kurzfristigen Wirkung, danach jedoch würden sie umso schlimmer wiederkehren.
Künstliche Krankheit lenkt „Lebenskraft“ ab
Viel dauerhafter und grundsätzlicher dagegen wirke, so Hahnemann, die Kraft des Ähnlichen. Denn in seiner Vorstellung wendet sich die „Lebenskraft“ von einer Krankheit ab, wenn eine stärkere, gleichartige präsent ist. Wenn diese stärkere nun künstlich ausgelöst ist, verdrängt sie so die eigentliche Krankheit und kann dann beendet werden. Tatsächlich scheint sich dieser Ansatz zu bewähren: Während der großen Choleraepidemien Mitte des 19. Jahrhunderts überleben in einer Londoner Homöopathieklinik deutlich mehr Patienten als überall sonst – vermutlich vor allem deshalb, weil ihnen die sonst üblichen schwächenden Prozeduren wie Aderlass und Klistiere erspart bleiben. Welche homöopathischen Mittel ihnen verabreicht wurden, ist allerdings nicht bekannt.
Die Vorstellung einer Lebenskraft scheint sich bis heute gehalten zu haben: „Ursache von Krankheit ist die verstimmte oder aus dem Lot geratene Lebenskraft, die den Nährboden für die verschiedensten Krankheiten bietet. Die verstimmte Lebenskraft ist die Ursache dafür, warum der Mensch erkrankt“, definiert der Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte (DZVhÄ) auf seiner Website. Und weiter: „Deshalb verschieben sich Symptome und tauchen an anderen Orten wieder auf, wenn sie nur lokal behandelt oder unterdrückt werden. Die Lebenskraft wieder ins Gleichgewicht zu setzen, die Selbstheilungskräfte des Organismus anzuregen, ist die Aufgabe der homöopathischen Arzneimittel.“
Dass das Konzept einer geheimnisvollen Lebenskraft, wie sie auch im 19. Jahrhundert der Vitalismus postulierte, längst widerlegt ist, scheint die homöopathischen Ärzte allerdings nicht zu tangieren.
Nadja Podbregar
Stand: 26.03.2010