Zwanzig Minuten pro Tag – so lautet die offizielle Kuschelverordnung von Ärzten. Schätzungsweise so viel Körperkontakt braucht der Mensch nämlich, um sich richtig wohlzufühlen. Das zumindest legen Versuche mit Massagebehandlungen nahe. Bei Probanden, die so lange massiert wurden, zeigten sich deutliche positive Effekte auf Körper und Psyche. Auch unter Normalbedingungen, so glauben Forscher, müssten diese zwanzig Minuten eine ähnliche Wirkung zeigen.
Doch egal ob Massage, wohlwollende Schulterklopfer, feste Umarmungen oder intimes Kuscheln: Das Berührungssoll zu erfüllen, ist im Alltag oft gar nicht so leicht. So ist der Anteil der Singlehaushalte in Deutschland inzwischen auf rund 40 Prozent gestiegen, Paare führen oft Fernbeziehungen – und selbst beim gemeinsamen Zusammenleben berühren Liebende einander mit der Zeit immer seltener, wie Studien belegen. Dass heutzutage ein Großteil der Kommunikation über das Smartphone und soziale Netzwerke abläuft anstatt offline stattzufinden, trägt auch nicht unbedingt zu vermehrtem Körperkontakt bei.
„Chronischer Berührungsmangel“
Manche Wissenschaftler sehen diese Entwicklung mit Sorge. Der Physiologe Cem Ekmekcioglu von der Medizinischen Universität Wien geht sogar so weit, der heutigen Gesellschaft einen „chronischen Berührungsmangel“ zu attestieren – und warnt in seinem Buch „Drück mich mal“ davor, dass Seele und Körper unter der modernen berührungslosen Lebensroutine erodierten. „Obwohl wir auf angenehme Berührungen angewiesen sind und sie uns extrem gut tun, strengen wir uns wenig an, sie zu bekommen. Abgesehen von sexueller Erregung lassen wir unseren Hautsinn verkümmern“, so sein ernüchterndes Urteil.
Tatsächlich aber scheint das Bedürfnis nach körperliche Nähe jenseits von Sex bei vielen Menschen groß zu sein. Auf die Frage, was sie glücklich macht, gibt mehr als die Hälfte der Deutschen in einer vom Marktforschungsinstitut Innofact durchgeführten Umfrage an erster Stelle an: eine liebevolle Umarmung. Auch einer Befragung der Online-Partnervermittlung Elitepartner zufolge sehnen sich 61 Prozent der Single-Frauen und 48 Prozent der alleinstehenden Männer vor allem nach Umarmungen.
Kuscheln als Dienstleistung
Wer sich Nähe wünscht, aber niemanden zum Umarmen hat, setzt oft auf Ersatzangebote – zum Beispiel in Form von Wellnessbehandlungen. Doch längst hat sich daneben ein Markt entwickelt, der sich den Bedürfnissen solcher Menschen ganz gezielt widmet und Kuscheln als Dienstleistung anbietet: Auf sogenannten Kuschelpartys etwa treffen sich Erwachsene, um in einem geschützten Rahmen körperliche Nähe auszutauschen, zwanglos und ohne Hintergedanken. Kuscheltrainer leiten das Zusammensein an. Sie sollen für eine Atmosphäre sorgen, in der sich alle Teilnehmer sicher und entspannt fühlen.
Erdacht haben das Konzept die Beziehungstherapeuten Reid Mihalko und Marcia Baczynski. Sie organisierten vor gut zehn Jahren in New York die ersten „Cuddle Partys“ – und setzten damit eine regelrechte Bewegung in Gang. Längst haben sich die Kuschelpartys über die Grenzen der USA hinaus verbreitet. Hierzulande boomen solche Angebote mittlerweile nicht nur in Großstädten wie Berlin und Köln. „Wir haben einen Nerv getroffen“, sagt Mihalko heute rückblickend.
Der einzige Haken an der Sache: Nach ein paar Stunden ist das Gefühl der Geborgenheit wieder vorbei und das Portemonnaie ein paar Euros leichter. Kritiker glauben, dass solche kurzfristigen Ereignisse langfristig keine Lösung bringen. Ohnehin könnten Streicheleinheiten von Fremden die Nähe zu einer vertrauten Person nie vollständig ersetzen. Viel wichtiger sei, als Single sozial aktiver zu werden und in einer Partnerschaft die Qualität der Beziehung zu verbessern. Es komme darauf an, im Alltag ein stärkeres Bewusstsein für die Bedeutung körperlicher Nähe zu schaffen.
Daniela Albat
Stand: 02.09.2016