Tatort Lower Earth Orbit: In knapp 800 Kilometern Höhe zieht ein Kommunikations- und Nachrichtensatellit seine Bahn. Markierungen auf seiner Außenhaut charakterisieren ihn als Produkt eines chinesischen Betreibers. Plötzlich nähert sich ein weiteres Objekt, diesmal mit dem Signum eines US-amerikanischen Raumfahrtunternehmens. Langsam überbrückt es die letzten Meter Distanz, dann plötzlich klickt es: ein Greifarm hat angedockt. Der Neuankömmling startet nun unverzüglich seine Antriebsdüsen und schiebt den chinesischen Satelliten allmählich aber unaufhaltsam in die Tiefe – in Richtung Atmosphäre und damit der Zerstörung entgegen.
Entsorgung oder feindlicher Übergriff?
Dieses Szenario ist noch reine Fantasie, doch was es so spannend macht, ist seine Interpretation: Was genau passiert hier? Ein harmloses Abschleppen eines Stücks Weltraumschrott? Oder etwa ein feindlicher Übergriff, die Ausschaltung eines voll funktionsfähigen Konkurrenten im Orbit? Diese Frage ist realer und drängender als es vielleicht auf den ersten Blick scheint. Denn viele der bisher vorgeschlagenen und erforschten Anti-Schrottmaßnahmen lassen sich durchaus auch gegen funktionierende Satelliten und Sonden einsetzen. Damit werden sie zur Waffe.
„Alles, was hochsteigen kann, ein Schrotteil greifen und es wieder hinunterbringen kann, das kann auch den operativen Satelliten von Jemandem greifen und ihn herunterbringen“, erklärt Jerome Pearson vom Raumfahrtunternehmen Star Technology and Research. „Das ist auch eine Weltraumwaffe.“ Unter anderem deshalb ist der Erdorbit politisch noch immer ein viel zu heikles Parkett, als dass sich hier ein Staat im Alleingang vorwagen und damit möglicherweise dem Vorwurf eines aggressiven Akts aussetzen würde.
Schrott schwebt im rechtsfreien Raum
Auch die Frage der Haftung und Kostenübernahme ist bisher ungeklärt: Wer soll die teuren Räumaktionen bezahlen? Freiwillig dürfte da wohl kaum jemand „hier“ schreien. Solange die Raumfahrtnationen und kommerziellen Satellitenbetreiber nicht per Vertrag oder internationale Übereinkunft zum Zahlen oder Handeln verpflichtet werden, fließt das Geld für Entsorgungsprojekte spärlich, wenn überhaupt.
Zwar regelt ein Vertrag aus dem Jahr 1972, dass Staaten für die Schäden aufkommen müssen, die ihre „Weltraumobjekte“ in der Luft oder durch herabstürzende Bruchstücke auf der Erde anrichten. Doch darüber hinaus gehende Haftungsregeln existieren bisher nicht, was den großen Raumfahrtnationen und Hauptschrottverursachern durchaus gelegen kommt. Auch was ein Weltraumobjekt im Sinne des Völkerrechts ist und was nicht, wurde bisher nicht genauer definiert. Es exiistiert nur die allgemeine Übereinkunft, dass es sich um „menschengemachte Gegenstände handelt, die für eine Tätigkeit im Weltraum bestimmt sind“. Weltraumschrott fällt nach Ansicht von Juristen hier bisher durch das Raster, gilt nicht als Weltraumobjekt im Sinne der damaligen Regelungen.
Internationale Lösungen gesucht
„Als die völkerrechtlichen Verträge rund ums Weltall geschlossen wurden, hat man an Weltraumschrott einfach nicht gedacht“, erklärt Stephan Hobe, Direktor des Instituts für Luft- und Weltraumrecht an der Universität Köln gegenüber der Süddeutschen Zeitung. „Da muss man ganz neu anfangen.“ Hobe und weitere Juristen, Weltraumforscher und Ingenieure trafen sich deshalb im April 2010 in Köln zu einer internationalen Konferenz, um konkrete Vorschläge für einen rechtlichen Rahmen zu erarbeiten, der den zukünftigen Umgang mit Weltraumschrott regeln könnte.
Zur Lösung des Haftungsdilemmas schwebt ihnen beispielsweise die Einrichtung eines Fonds vor, in den alle Raumfahrtnationen einzahlen und aus dem Entschädigungen gezahlt werden, wenn beispielsweise eines der Millionen winziger Trümmerteilchen einen Satellitensensor trifft und außer Gefecht setzt. Damit umginge man das Problem, den Ursprung jedes Schrottpartikels klären zu müssen – was in vielen Fällen ohnehin nicht möglich ist. Schon gar nicht, wenn das Teilchen selbst Resultat einer Trümmerkollision ist. Ob und in welcher Form ein solcher Fonds jedoch jemals kommen wird, ist fraglich. Denn die Staaten reißen sich bisher nicht gerade darum, sich in punkto Weltraumschrott eine gesetzliche oder andere verbindliche Regelung auferlegen zu lassen.
Selbstverpflichtung zur Schrottvermeidung
Bewegung gibt es in naher Zukunft daher vermutlich allenfalls auf der Ebene freiwilliger Verpflichtungen. Immerhin haben sich die Vertreter der UNO bereits im Jahr 2009 auf erste Grundregeln einer nachhaltigen Raumfahrt geeinigt. Sie zielen allerdings bisher nur darauf ab, die Entstehung neuen Weltraumschrotts im Missionsverlauf und danach zu vermeiden. So sollen zukünftig alle Satelliten im geostationären Orbit ihren letzten Treibstoff dafür einsetzen, sich in einen 100 Kilometer höher gelegenen Friedhofsorbit zu katapultieren, bevor sie endgültig abschalten. Im niedrigen Erdorbit dagegen sollen Vorkehrungen getroffen werden, die Satelliten entweder kontrolliert absinken lassen, damit sie verglühen, oder aber sie in einen ungefährlichen Parkorbit oberhalb von 2.000 Kilometern hieven.
Vorreiter in dieser Hinsicht ist die ESA, die bereits seit Mitte der 1990er Jahre alle Raumfahrzeuge im Lower Earth Orbit am Ende ihrer Lebenszeit entsprechend entsorgt. Zusätzlich sind alle ihre Raketentriebwerke mit speziellen Restentleerungsmechanismen ausgerüstet, die verhindern sollen, dass Treibstoffreste in den ausgestoßenen Tanks explodieren und so neue Trümmerwolken produzieren.
Dass all dies nicht reicht, um langfristig eine sichere erdnahe Raumfahrt aufrechterhalten zu können, wissen auch die ESA-Verantwortlichen. „Langfristig ist die einzig effektive Methode, die Weltraumschrott-Situation auf einem sicheren Niveau zu stabilisieren, das Entfernen von Masse aus den Regionen mit den höchsten Objektdichten“, konstatiert sie auf ihrer Website. Nur die Kombination von Vermeidung und Entsorgung, und dies möglichst breit angelegt und zügig, könne ein unkontrolliertes Wachstum des Müllproblems verhindern. Wie schnell dieser Erkenntnis – auch bei den anderen Raumfahrtnationen – Taten folgen werden, bleibt abzuwarten…
Nadja Podbregar
Stand: 03.09.2010