Rückblick in das China der 1970er Jahre. Während Dinos für Kinder in den USA und Europa allmählich zu den Lieblingsspielzeugen schlechthin avancieren, wächst der Chinese Xu Xing auf, ohne auch nur jemals etwas von Dinosauriern gehört zu haben. In der vorwiegend von moslemischen Uiguren bewohnten Provinz Xinjiang im äußersten Nordwesten Chinas sind sie kein Thema. „Es war dort isoliert und rückständig“, erinnert sich Xu 2008 in einem Gespräch mit einem Reporter der „USA Today“. „Es gab keine Möglichkeit, wie ich von Dinosauriern hätte hören können oder gar mit Dinosaurier-Spielzeug hätte aufwachsen können.“
Heute kann sich Xu Xing ein Leben ohne Dinos kaum mehr vorstellen. Er gilt inzwischen als der „Indiana Jones“ Chinas, als der berühmteste „Dinojäger“ aller Zeiten. Kaum jemand hat so viele und so bedeutsame Fossilien dieser Tiergruppe entdeckt wie er – darunter einige, die sich als die bisher wichtigsten Bindeglieder zwischen Dinosauriern und Vögeln erwiesen haben.
Geologie statt Software-Design
Doch um ein Haar wäre es dazu nie gekommen. Denn als es Anfang der 1980er Jahre für ihn um die Berufswahl geht, weiß der junge Chinese genau, was er will: Software-Designer möchte er werden. Doch der chinesische Staat hat andere Pläne mit dem Jungen: Er teilt ihm einen Studienplatz in Geologie und Paläontologie an der Universität Peking zu. Xu willigt notgedrungen ein und nimmt das Studium auf in der Hoffnung, vielleicht später doch noch wechseln zu können. Trotz seines nur mäßigen Interesses bewährt er sich und bekommt sogar einen Platz als Doktorand am Institut für Wirbeltier-Paläontologie und Paläoanthropologie der Chinesischen Akademie der Wissenschaften angeboten.
Xu wird zum Dino-Jäger
Doch auch darüber hält sich seine Begeisterung zunächst in Grenzen. „Ich war nur interessiert, weil das bedeutete, dass ich in Peking bleiben konnte und nicht zurück nach Xinjiang musste“, erzählt er. Aber dann ändert sich plötzlich alles: 1995, knapp ein Jahr vor seiner Promotion, macht es plötzlich Klick und Xu stellt fest, dass er das Leben als Paläontologe sogar liebt. Vor allem die Forschungsexpeditionen und das Leben als „Fossilienjäger“ faszinieren ihn. „Es war mein Schicksal, Dinosaurier zu suchen“, erklärt er. „Ich liebe es, das Unbekannte zu erkunden und in die Wildnis hinauszugehen, um seltsame, fremdartige Kreaturen zu erforschen, so anders als die Tiere, die wir heute kennen.“
Nach der Entdeckung des Sinosauropteryx in Liaoning unternimmt auch Xu Xing ab 1997 mehrere Ausgrabungsexpeditionen zu den reichhaltigen, aus der frühen Kreidezeit stammenden Yixian-Formationen dieser Region. Und er wird fast sofort fündig: Gemeinsam mit seinen Kollegen entdeckt er die Relikte eines weiteren Dinosauriers mit einem Pelz aus dünnen Daunenfedern. „Beipiaosaurus inexpectus“ wie er getauft wird, lebte vor 130 bis 125 Millionen Jahren und war für einen gefiederten Dinosaurier ungewöhnlich groß.
Echte Vogelfedern bei Caudipteryx
Jetzt geht es Schlag auf Schlag. 1998, in der nächsten Grabungssaison an der Yixian-Formation, stoßen Xu Xing und seine Mitarbeiter sogar auf zwei Feder-Dinosaurier. Der erste, Caudipteryx, besitzt erstmals Federn, die nicht nur fädige Anhängsel sind wie bei Sinosauropteryx, sondern wie die Kontur- und Schwungfedern moderner Vögel strukturiert sind. Sie bestehen aus einer Spindel, einem Federschaft und einer Federfahne aus miteinander verzahnten Strahlen und Häkchen. An den Armen sind die Federn bis 20 Zentimeter lang und bilden eine Art Flügel.
Sinornithosaurus enthüllt Schwestergruppe der Vögel
Doch auch der zweite Fund hat es in sich. Er entpuppt sich bei näherer Analyse sogar gleich in mehrfacher Hinsicht als kleine Sensation. Denn „Sinornithosaurus“, so seine Bezeichnung, ist ungewöhnlich vogelähnlich: Seine Arme sind länger als die aller anderen nicht-aviären Theropoden, sie erreichen 80 Prozent der Hinterbeinlänge. Das Gabelbein ist wie beim Archaeopteryx Bumerang ähnlich geformt, auch Becken und Schultergürtel lassen deutliche Übereinstimmungen erkennen. Der Kopf ist rundlich, die Schnauze kürzer und schmaler als bei Deinonychus. Fast die gesamte Körperoberfläche ist zudem mit Federn bedeckt.
Aus den Auswertungen aller Merkmale schließen die Forscher, dass Sinornithosaurus und seine Verwandtschaftsgruppe, die Dromeosauridae, näher mit den Vögeln verwandt sein müssen als alle anderen bekannten Dinosauriergruppen. Xu Xing und seine Kollegen könnten damit die Schwestergruppe der Vögel gefunden haben– die Stammeslinie, die als letzte einen gemeinsamen Vorfahren mit Archaeopteryx und Co. teilt.
Gefiederter Jäger mit Giftzähnen
Doch es gibt noch eine Besonderheit des Sinornithosaurus, wie die chinesische Forschergruppe gemeinsam mit amerikanischen Kollegen entdecken: Am Kopf des Tieres finden sie zwei seitliche Eindellungen, von denen aus jeweils ein , tief eingeschnittener Kanal bis zu einer Reihe von langen, eingekerbten Zähnen im Oberkiefer reicht. „Als wir uns Sinornithosaurus anschauten, realisierten wir, dass seine Zähne ungewöhnlich waren“, erinnert sich Larry Martin, Professor für Wirbeltierpaläontologie an der Universität von Kansas. „Wir begannen, die gesamte Struktur von Zähnen und Kiefer zu untersuchen und an dem Punkt realisierten wir, dass das Ganze ähnlich wie bei modernen Schlangen aussah.“
Nähere Analysen bestätigen dies und enthüllen, dass Sinornithosaurus bei seiner Jagd auf Beute offenbar Gift zu Hilfe nahm, das in Drüsen seitlich des Kopfes produziert und dann zu den Zähen geleitet wurde. „Das war tatsächlich ein giftiger Vogel“, so Martin. „Das war ein echter Schock für uns.“ Sein Kollege David Burnham erklärt die Jagdstrategie von Sinornithosaurus : „Man würde ihn nicht kommen sehen. Es würde sich von einem niedrig hängenden Ast auf einen stürzen und von hinten angreifen. Wenn die Zähne einmal in der Haut saßen, konnte das Gift in die Wunde fließen. Die Beute wäre sehr schnell in Schock verfallen, würde aber noch leben und vermutlich sogar mitbekommen, wie dieser Raptor sie verschlingt.“
Nadja Podbregar
Stand: 13.08.2010